Saemtliche Werke von Jean Paul
werden; aber jeden Monat und jeden Sektor muß ich in einer andern Kajüte schreiben. –
Der dritte und vernünftigste Grund ist meine Schwester: sie ist wieder von der Residentin von Bouse zurück, erstlich, weil sie ihre Stelle einer schönen Bücherpatientin leer zu machen hatte, der guten Beata nämlich, welche der Vater, der Doktor, der Liebhaber – der dumme Oefel (er wird aber gar nicht begünstigt) – endlich mitten in diese Zusammenströmung aller Freuden und Visiten hinberedeten; – zweitens ist meine Schwester da, weil ichs so haben wollte, aber Schwester, Schwester, warum hab’ ich dich nicht eher aus diesem übersinternden Mineral-Strudel gerissen? Warum hast du dich so verändert? Wer kann dich zurück verändern? Wer will dir aus dem Herzen scheuern deine Gedanken an fremde Blicke, deine Gier, bewundert, aber nicht geliebt zu werden, deine Gefallsucht, welche Liebe nur erregen, nicht erwidern will, und alles das, was dein Herz unterscheidet von deinem vorigen Herzen und von Beatens ewigem? – – Mit meiner Schwester wollt’ ich also nicht gern das Schloß verengern, auf dem sie übrigens alle Tage ein paar Stunden versitzet.
Jetzt hab’ ich dem Leser beigebracht, woran er ist: wir wenden uns wieder zu Gustavs Wagen und sind alle zufrieden, Leser, Setzer und Schreiber.
Gustav fuhr in einer Trunkenheit des Schmerzes, die der schöne Himmel in Tränen auflösete, nach Scheerau und hielt jede Schwalbe und Biene, die unserem Schlosse zuflogen, für glücklich; die nächsten zehn Jahre hingen als zehn Vorhänge vor ihm düster nieder, »und liegen«, fragt’ er sich, »Totengerippe, Raubtiere oder Paradiese hinter den Vorhängen?« – Was ohne Vorhang vor ihm saß und dozierte, sah er auch nicht, den Professor. Zwei Stunden vor Scheerau schrieb er mir mit jener flammenden Dankbarkeit, die aus dem Menschen nur in seinem zweiten Jahrzehend so strahlend bricht. Wie bei allen Seelen, die sich mehr von innen heraus als von außen hinein verändern, stand in ihm der Barometer seines Herzens oft unbeweglich auf demselben Grade. Die Regenwolken und den Regenbogen in seinem innern Himmel brachte er nach Scheerau mit; er trug sein überhülltes Herz in das weite widerhallende Kadettenhaus und in dessen Jahrmarktlärm auf den Treppen und in das Kadetten-Feldgeschrei wie unter die Schläge einer Kupferschmiede und Walkmühle hinein – er wurde noch trauriger, aber mit mehr Schmerzen.
Das Merkwürdige im Zimmer, das er betrat und bewohnte, waren nicht drei Kadetten – denn sie waren Kurrent-Menschen, Scheidemünze und prosaische Seelen, d. h. lustig, witzig, ohne Gefühl, ohne Interesse für höhere Bedürfnisse und von mäßigen Leidenschaften –, sondern der Stuben-Ephorus, Herr von Oefel, der mit dem Degen wie eine gespießte Fliege mit der Nadel lief. Oefel fing ihn sogleich zu beobachten an, um ihn abends zu beschreiben; – in Gesellschaften aber beobachtete er jeden, nicht um fremde Pfiffe zu erlauschen, sondern um seine vorzuweisen. So lobte er auch, ohne zu achten, und schwärzte an, ohne zu hassen: glänzen wollt’ er bloß.
Unter diesen Verhältnissen, ehe Gustav den schweren Gang über Schmerzen zu Geschäften tat, kam der Trost in der Gestalt der Erinnerung zu ihm, und Gustav sah, was er nicht hätte vergessen sollen – seinen Amandus , seinen Kindheitfreund. Aber der gute Jüngling trat vor ihn nicht in der ersten Gestalt eines Blinden, sondern in der letzten eines Sterbenden; er hatte die Nervenschwindsucht, die alles sein Mark aus der noch stehenden Rinde ausgezogen hatte – an der Rinde grünte nichts mehr als hängende Zweige mit fahlem gesenkten Laub. Er bereitete sich auf kein Amt und kein Leben vor, sondern erwartete und wollte empfangen an der Schwelle des Erbbegräbnisses den Tod, der die Treppe heraufstieg. – Aber daß seine Seele in einer lebendigen Wunde lag, daran kann uns nichts wundern als das Geschlecht ; denn die schönsten weiblichen Seelen wohnen selten anders; aber die Männer schonen diese Wunde nicht; es erweicht sie gegen ein so weiches Geschlecht der Anblick nicht, daß die meisten nicht von einem Tage zum andern, sondern von einem Schmerze zum andern leben und von einer Träne zur andern….
In Gustav wohnte das zweite Ich (der Freund) fast mit dem ersten unter einem Dache, unter der Hirnschale und Hirnhaut; ich meine, er liebte am andern weniger, was er sah, als was er sich dachte; seine Gefühle waren überhaupt näher und dichter um seine Ideen als
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