Saemtliche Werke von Jean Paul
Blut und Geschichte erst ordnen die einzelne Erscheinung in einen überpersönlichen Zusammenhang ein. Es ist Josef Nadler, der zuerst auf diese Dinge hinwies. Auf dieser Ebene, von Blut, Landschaft, Lage, geistiger und politischer Situation bestimmt, entfaltet sich erst die Persönlichkeit in ihrer Begrenzung und Weite. Die geschichtlichen Zusammenhänge, nicht die ästhetischen Kategorien geben der Gestalt Relief. Dichtung ist Kunst: Erst vom übergeordneten Begriff her empfängt jedes Ding seine Wertung. Kunst von Leben, Leben von Gott. Wir haben daher Jean Paul in seine historische, ja politische Situation hineingestellt, aber nur, weil jede empirische Situation Ausdruck einer metaphysischen ist.
Es ist also mehr der »Roman« Jean Pauls, dem ich zudränge, als einer Auflösung seines Wesens in Stilgeschichte und Typenlehre. Er soll leben, mit seiner magern Blondheit durch seine ersten Bücher stürmen, in Hemdärmeln vor der Tasse Kaffee als kleiner Schulmeister am bekramten Tisch sitzen, behäbig geworden und beruhigt seines Innern Widersprüche in Valt und Wult (»Flegeljahre«) nachzeichnen. Und er soll es unbeschadet tun, weil wir in ihm immer das Walten eines drängenden Geistes spüren, das Ringen der Sehnsucht, die am Ausgang des 18. Jahrhunderts die Welt in Revolutionen und Kriegen durcheinanderwirbelte.
Man weiß nichts von Jean Paul, oder die wenigen, die etwas von ihm wissen, könnten bequem mit Namen genannt werden. Und dennoch gibt es über ihn eine beträchtliche Literatur. An der Hand seiner Tagebücher könnte Tag für Tag seines Lebens verfolgt werden. Von seinem Neffen Richard Otto Spazier stammt eine Biographie, die in ihrer Art ein Meisterstück ist, und bis ans Ende des 19. Jahrhunderts sind immer wieder Jean Paul-Biographien geschrieben worden, die es allerdings weniger sind. Niemand hat sich um diese Literatur bekümmert. Heute würde Spaziers Darstellung vielleicht manchen interessierten Leser finden. Aber naturgemäß enthält sie Unrichtigkeiten und unüberwindliche Längen, von der mangelhaften Wertung der Werke ganz zu schweigen. Dennoch kommt man um diese Biographie nicht herum, sie liegt auch unsrer Darstellung zugrunde wie allen späteren Arbeiten über den Dichter. In neuerer Zeit hat sich Eduard Berend mit Jean Paul beschäftigt, und in seinen Arbeiten wächst nun in der Tat ein Standardwerk heran, wie es fast allen Dichtern sonst längst beschieden ist. Von den vier dicken Bänden seiner »Briefe Jean Pauls« sind zwei erschienen, der dritte war mir durch die Liebenswürdigkeit des Verlages Georg Müller wenigstens in den Druckfahnen zugänglich. Diese Ausgabe der Briefe, mit aufschlußreichen Anmerkungen versehen, soll den Grundstock einer Gesamtausgabe der Werke bilden. Weder die erste Reimersche Ausgabe noch die zweite enthält sämtliche Schriften, geschweige denn die verschiedenen Fassungen und Lesarten. Nur der mit Jean Paul Vertraute vermag die Schwierigkeit eines Unternehmens zu ahnen, an das Berend herangegangen ist. Eduard Berend besorgte auch die erste größere Auswahl von den Werken Jean Pauls. Lange nicht alles Wichtige ist in ihr enthalten, aber wenigstens so viel, daß man sich auch von seiner Vielseitigkeit wieder ein Bild machen kann. Diese Berendsche Ausgabe muß heute in die Hand nehmen, wer sich mit Jean Paul zu beschäftigen gedenkt. Die stille Hoffnung, mit der ich meine Darstellung in die Welt sende, ist die, daß sich das Interesse an Jean Paul so steigert, daß sich endlich ein Verleger findet, der dem hervorragenden Forscher Berend bei seinem Plan einer Gesamtausgabe mit allen Mitteln hilft. Zur Ergänzung der Berendschen Auswahl wird man am besten die von Richard Benz unter dem Titel »Blumen-, Frucht- und Dornenstücke« in erlesener Auswahl herausgegebenen kleinen Dichtungen Jean Pauls heranziehen. Eine ausführliche Bibliographie befindet sich am Schluß meiner Darstellung.
Neben der Biographie Spaziers waren es in erster Linie die Hinweise Berends, die mich nennenswert unterstützten. In meiner Wertung Jean Pauls glaube ich durchaus eigne Wege gegangen zu sein. Ich bin mir bewußt, daß die vorliegende Arbeit nur einen ersten Versuch darstellt. Jean Paul bedarf einer nicht minder großen Literatur als Goethe. Eine unendliche Fülle von Problemen muß noch durchgearbeitet werden, ehe er endgültig bezwungen ist. Aber es ist ja nicht einmal so wichtig, daß die Philologen Arbeit bekommen, als daß das deutsche Volk endlich einen seiner ganz
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