Saemtliche Werke von Jean Paul
andern angesehen werden konnte. Drei Gewichte des Werks, die sich gegenseitig aufhoben. Dieser Roman mußte Torso bleiben. Gustavs Liebe zu Beate war Traum und Schwarmliebe, konnte wohl in das »Neben dem Leben« einer Dichterstube hinleiten aber nicht in die schaffende Wirklichkeit, wie sie Jean Paul stets als höchstes Betätigungsfeld des harmonischen Menschen vorschwebte. Die nächste Stufe, die Gustav hätte durchschreiten müssen, die der dämonischen Unrast, war bereits in Ottomar vorweggenommen, und die endgültige Überwindung dieser Vorstufe schöpferischen Lebens, wirklichkeitsdurchtränkte Lebensgemeinschaft, war für Jean Paul noch unerprobtes und unerreichbares Gebiet. Er mußte den Roman abbrechen, als er dem von ihm eigentlich erstrebten Gebiet sich zuwandte.
Und doch ist die »Unsichtbare Loge« ein geschlossenes und sich selbst erfüllendes Werk geworden, fast mehr als der äußerlich vollendete »Hesperus«. Das hängt mit Jean Pauls Stellung zur Dichtung überhaupt zusammen. Ihm waren Form und Inhalt nicht zu trennende Gebiete. Der Welt, die sich ihm erschloß und die ihn zur Gestaltung hinriß, suchte er nicht die äußerlich glatte architektonische Form zu geben, die sie zu ihrem Abschluß brauchte. Natürlich war es auch ihm nicht unbekannt, daß jede Handlung bis zu einem gewissen Punkte hingeführt werden muß, um den Anschein der Vollendung zu gewinnen. Ein Roman soll eine abgeschlossene Welt darstellen und fest umgrenzen. Aber Jean Pauls innere Wesenheit widerstrebte einem umschließenden Rahmen. Ihm waren Welt und Leben unendlich. Menschen und Situationen steigen auf und sinken nieder, und nicht immer kommt der Augenblick, da sie, wie in einem Opernschluß, zum Kreis sich runden. Personen, die in der Kindheit wichtig und voller Schicksal sind, treten später zurück, ohne wieder als greifbare Gestalt aufzutauchen. Selten führt der erste Kuß ins Brautbett, selten begleitet die erste Freundschaft ein Leben bis zur Bahre. »Wir werden nichts mehr von ihr hören«, sagt Jean Paul von der anmutigen Schäferin Regine, mit der Gustav den ersten Kuß tauscht. »So wird es durch das ganze Buch fortgehen, das wie das Leben voll Szenen ist, die nicht wieder kommen.« Ein Realismus der Darstellung, der seit jeher Bestandteil deutscher Dichtung war. Erst durch das Bildungsgut der Antike wurde der architektonische Aufbau in der deutschen Literatur heimisch. Die alte Sage wie der Roman des 17. und 18. Jahrhunderts noch läßt Menschen und Situationen fallen und hebt sie nach Belieben, oder vielmehr nach dem Gesetz innerer Wahrheit wieder auf. Das Leben ist »voll Szenen, die nicht wieder kommen«.
Und dennoch hinterlassen diese untertauchenden Personen und Begebenheiten etwas, das über ihre besondere und äußere Prägung hinausgeht. Sie setzen Materie in dynamische Schwingung, die dynamisch weiterschwingt. Sie sind Vorboten anderer Szenen, die sich auf anderer Ebene wiederholen. Sie kommen nicht wieder, aber das Unfaßbare an ihnen wirkt fort. Sie haben sich dem Tonkörper des Menschen eingeprägt und müssen von nun an jeden neuen Ton beeinflussen. Und diese dynamische oder musikalische Wirkung festzuhalten, das wird zu Jean Pauls eigentlicher Kunst. Nicht an der bildenden Kunst ist sein Formgefühl erwachsen, sondern an der Musik, und zwar an einer Musik, soweit sie nicht »gefrorene Architektur«, sondern Melos ist.
Gerade damals bildete sich in der Musik die sogenannte Sonatenform aus, und diese Entwickelung der musikalischen Formensprache durch Philipp Emanuel Bach und Joseph Haydn war Jean Paul keineswegs fremd. Aber seine epische Kunst basierte doch mehr auf dem polyphonen Gefüge der Melodieführung Johann Sebastian Bachs. Mit der Sonatenform bildete sich damals das der Musik innewohnende dramatische Moment aus. Ihr Aufbau entspricht genau dem Aufbau des klassischen Dramas, wie es sich in Deutschland hauptsächlich in Schiller durchsetzte. Erstes und zweites Thema, Durchführung, Koda: das entspricht der Exposition der beiden ersten Akte des Dramas, der Verwickelung des dritten, der Fortführung der Handlung im vierten und der Katastrophe im fünften Akt. Episch hingegen war die Polyphonie des alten Bach mit ihrer Hinneigung zu Fuge und Variation. Ihr inneres Gesetz hieß nicht, in zwei Themen zwei Welten gegeneinander zu führen und aus ihrem Gegensatz die Katastrophe zu türmen, sondern eine Melodie sich entwickeln zu lassen, sie Welten, Spannungen, verschiedene Ebenen durchlaufen zu
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