Saemtliche Werke von Jean Paul
künstliche Ruinen und wahre von Römern und Raubadel, Straßen, Jägerhäuser, Pulvertürme, Rathäuser, Gebeinhäuser so wild und eng durcheinander herwarfen, daß ein vernünftiger Mann oben denken mußte, das seien nur umhergerollte Baumaterialien, die man erst zu einem schönen Park auseinanderziehe.« Und dann die Schilderung des überflogenen Lebens: Überall und zu gleicher Zeit spielen »Theater mit aufgezogenen Vorhängen«. Hier wird einer Landes verwiesen, dort desertiert einer, hier wird in brennendfarbigen Wiesen gemähet, dort knien Weiber am Wege vor Kapellen. Ein Schieferdecker besteigt den Stadtturm, ein Pfarrsohn guckt aus dem Schalloch; ein lachender trabender Wahnsinniger muß eingefangen werden. Tausend solche Bilder des Lebens gleiten vorüber. Oben aber schweigt alles und ist groß und tot und droht fast. »Gott weiß, welcher gewaltige böse oder gute Geist hier in dieser stillen Höhe dem Treiben grimmig-grinsend oder weinend-lächelnd zusieht und die Tatzen ausstreckt oder die Arme, und ich frage eben nichts nach ihm…« Hier ist Steigerung des Lebens, nicht aus findiger Technikergeschicklichkeit, sondern aus titanischem Drang, der sich über die Erde schwingt.
Von grausiger Wucht eine Begegnung auf der Höhe des Brockens: Eine weiße flatternde Erscheinung springt den Berg hinauf. Die Augen sind geschlossen, das Haar schwarz, die Augenbrauen borstig, die Nase gebogen groß, die Arme haarig, die Bärenbrust unbedeckt und der ganze Nachtwandler – im Hemde. Die Erscheinung faßt das Hemd mit beiden Händen an und beginnt zu tanzen. Endlich rennt sie, die Arme emporgehoben, davon. Es ist Freund Graul oder Leibgeber, der auf dem verhexten Berg, aus dem Brockenwirtshaus nachts kommend, dieses schauerliche Menuett tanzt. Und in der gleichen grausigen Wildheit das Ende Gianozzos: Sein Luftschiff gerät in ein Gewitter. Über dem Rheinfall von Schaffhausen wird es vor den Augen Leibgebers vom Blitz zerrissen.
Es gibt keinen Eindruck vom Flugzeug herab, der in Jean Pauls Schilderungen nicht schon vorweggenommen wäre. Der Blick von oben her in eine tobende Schlacht und Gianozzos Eingreifen in den Kampf mit rasenden Steinwürfen – oder wie er hoch über einer Festung schwebt, in sie von oben hineinsehend und sie bedrohend – das sind Lufterlebnisse, mit einer Eindringlichkeit dargestellt, die kein Tagebuch eines Kampffliegers aus dem Weltkriege überbieten kann. Natürlich spielen auch Gestalten seiner Romane wieder in die Handlung hinein. In der romantischen Felsenlandschaft begegnet ihm Theresa, die auf den Geliebten wartet, den er von seiner Höhe auf weißem Roß durch die Berge schon heransprengen sieht. Das ist wie Linda, die Titanide aus dem »Titan«. Oder er senkt sich in dem Garten von Lilar nieder, sieht Dian, der sich im Flötental abkühlt. Er überfliegt die Baireuther Fantaisie und das Seifersdorfer Tal, alle geliebten Gegenden mit seinem Blick umspannend. Wirkliches Flugerlebnis ist in der Dichtung.
Der Geist, der so mit Räumen zu spielen verstand, mußte auch die großen Gliederungen der Zeit zu überschauen versuchen. Es war kaum anders möglich, als daß der Umschwung des Jahrhunderts stärksten Eindruck auf Jean Paul machte. Wir kennen die Aufzeichnung Schillers aus der Neujahrsnacht
1800, in
der er das kommende Jahrhundert prophetisch zu durchdringen versuchte. Auch er wittert einen völligen Umschwung der Zeit und ein drohendes Näherkommen feindlicher Gewalten. Jean Paul verbrachte die Neujahrsnacht in Tiefurt bei der Herzogin Amalie, und zur Feier des kommenden Jahrhunderts wurde ein Drama von Kotzebue von Liebhabern auf der Tiefurter Bühne gespielt. (Sehr zum Ärger Goethes und Schillers!) Auch dieser Neujahrsnacht hatte Jean Paul eine kleine Gelegenheitsarbeit gewidmet: die »Huldigungspredigt vor und unter dem Regierungsantritt der Sonne, gehalten am Neujahr 1800 vom Frühprediger dahier«. Aber nicht in dieser belanglosen Gelegenheitsarbeit konnten seine Gedanken zur Jahrhundertwende sich erschöpfen. Erst im Laufe des nächsten Jahres schrieb er die kleine Dichtung nieder, die Schillers prophetischen Aufzeichnungen an die Seite zu setzen ist: »Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht«.
Wieder versetzt er sich in seinen Gedanken nach dem erträumten Gütchen Mittelspitz und denkt Hermine an seine Seite: seine erträumte Gattin, wie er sie uns in den »Palingenesieen« vorführte. Hermine ist ausgegangen, und er bleibt, von Migräne und Übermüdung
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