Saemtliche Werke von Jean Paul
Dichter seine genaue Kenntnis der Literatur des 18. Jahrhunderts ungemein zugute. Ganz anders als seine Zeitgenossen wurzelte er infolge seiner Entwickelung abseits des großen Lebens in der literarischen Tradition einer Kunstpoesie, die viel genauer gedanklich durchformt war als die moderne Literatur seit dem Sturm und Drang. In der Moderne waren die einzelnen Dichtungsarten durcheinandergeraten, hatten zwar an seelischem Reichtum gewonnen, aber an Kultur der Form und des geformten Wortes eingebüßt. Goethe zum Beispiel wäre kaum imstande gewesen, eine Poetik auch nur in bloßen Leitbegriffen zu skizzieren. Über Grundbegriffe der Dichtung, über Humor, Witz, Satire etwa, hätte er sich kaum fruchtbar auslassen können. Lessing war der letzte Beherrscher der Grundbegriffe einer streng gedanklich fundierten Poetik, und erst im Anschluß an Jean Paul sollten in neuerer Zeit wieder Beherrscher dieser eingeschlafenen Welt wie Wolfgang Menzel oder Friedrich Theodor Vischer auftreten.
Die Leitpunkte der Schrift entsprechen genau der Anordnung des »Titan«. In dem ersten »Programm«, wie Jean Paul die einzelnen Abteilungen der Vorschule bezeichnet, stellt er die »poetischen Nihilisten« und die »poetischen Materialisten« einander entgegen. Schon diese Definitionen zeigen die Frontstellung an. Unter Nihilisten versteht er jene Kunstrichtung, deren Formensprache des Untergrundes der Wirklichkeit entbehrt. Es ist der gleiche Vorwurf, den er von jeher der Weimarischen Schule machte und den er jetzt, entsprechend dem »Titan« (»Liane«), auch auf die Romantiker von der Reinheit und Durchsichtigkeit eines Novalis ausdehnt. Unter den Materialisten fertigt er die platten rationalistischen Nachahmer der Natur, wie Hermes, Brockes oder Gellert, ab. Auch gegen Kants Ästhetik wendet er sich. Kant suchte, wie das rein sittlich Gute, so auch das ästhetisch Vollendete durch Isolierung des Begriffs. Jean Paul hingegen hat als obersten Leitpunkt ständig das Leben selbst im Auge. »Dem Nihilisten mangelt der Stoff und daher die belebte Form; dem Materialisten mangelt belebter Stoff und daher wieder die Form, kurz, beide durchschneiden sich in Unpoesie.« Der rechte Dichter »wird begrenzte Natur mit der Unendlichkeit der Idee umgeben, und jene wie auf einer Himmelsfahrt in diese verschwinden lassen.«
Damit war kurz umrissen, was Jean Paul unter Dichtung oder Kunst überhaupt versteht. Schon hier wird die Methode des Buches klar: er leitet nicht Begriffe aus Begriffen ab, sondern sucht durch Bilder und Metaphern sein Ideal der Kunst erlebbar zu machen. Er baut nicht ein lückenloses System der ästhetischen Werte auf, sondern er fügt Stein auf Stein sein Kunsterlebnis in das Leben ein, wie es von jedem klar gefühlt und erlebt wird.
In dem zweiten Programm untersucht er die »Stufenfolge poetischer Kräfte«. Die Phantasie spricht er als das eigentliche Organ der Poesie an, anknüpfend an seinen Aufsatz »Von der natürlichen Magie der Einbildungskraft« aus den Beigaben zum »Quintus Fixlein«. Die Phantasie oder »Bildungskraft« führt uns nun schon tiefer in das Wesen
der Dichtung und des Dichters ein. Die »Grade der Phantasie« werden untersucht, und das Programm endet bei den »passiven Genies«. Karl Philipp Moritz stellt er den passiven Genies voran. »Auch Novalis und viele seiner Muster und Lobredner gehören unter die genialen Mannweiber, welche unter dem Empfangen zu zeugen glauben.« Bis dicht an das Genie selbst hat uns diese Untersuchung herangeführt. Dem Genie ist nun das dritte Programm gewidmet, und hiermit treten wir in den eigentlichen Tempel ein. »Der Glaube von instinktmäßiger Einkräftigung des Genies konnte nur durch die Verwechselung des philosophischen und poetischen mit dem Kunsttriebe der Virtuosen kommen und bleiben.« Ein fundamentaler Satz, der die Untersuchung über das Genie einleitet. Auch hier wieder die Frontstellung gegen die »Einkräftigkeit«, die den »Titan« durchzieht. Gerade die »Vielkräftigkeit«, die »Besonnenheit« wird in Jean Pauls Geniebegriff in den Vordergrund gerückt. Aber hinter dieser Besonnenheit schwingen die verschiedensten Kräfte und Strömungen. »Die geniale Ruhe gleicht der sogenannten Unruhe, welche in der Uhr bloß für das Mäßigen, und dadurch für das Unterhalten der Bewegung arbeitet. Was fehlte unserm großen Herder bei einem solchen Scharf-, Tief- und Viel- und Weit-Sinne zum höhern Dichter? Nur die letzte Ähnlichkeit mit Platon; daß
Weitere Kostenlose Bücher