Saemtliche Werke von Jean Paul
eine neue Periode seines Schaffens dokumentiert. Aus den durch Karl Freye ans Licht gezogenen Vorarbeiten zu dem Roman wissen wir, wie mühsam sich diese Umstellung vollzog. Zunächst hatte Jean Paul nur im Sinn, den Anhangbänden des »Titan« eine »der titanischen entgegengesetzte Fixleinsche Historie« beizufügen, die sich mit einem einzigen Helden, dem Notarius Gottwalt oder Gotthold Blitz, begnügen sollte. Doch enthält der erste Anhangband zum »Titan« bereits eine Skizze »Die Doppeltgänger«, die Geschichte eines zusammengewachsenen Zwillingspaares, also eine groteske Vorwegnahme der »Flegeljahre«, aus der sich dann schließlich die Geschichte der Zwillinge Walt und Vult herausentwickelte. Zunächst aber führte sich Jean Paul selbst als den Zwillingsbruder des Helden ein und wollte der Geschichte den Titel »Geschichte meines Zwillingsbruders« geben. Erst bei dem dritten Anlauf kristallisierte sich das Brüderpaar der »Flegeljahre« heraus.
Von Anfang an waren die »Flegeljahre« als ein Entwickelungsroman angelegt. Auch wenn der den Roman äußerlich zusammenhaltende Gedanke des van der Kabelschen Testaments erst später eingefügt wurde, sollte Walt durch wechselnde Schicksale zum Dichter hinaufgeläutert werden. Gerade durch die Gegenüberstellung der beiden Brüder hätte der Entwickelungsgedanke fruchtbar gemacht werden können, und doch schreibt Vult in seinem Abschiedsbrief, daß er den Bruder verläßt, wie er ihn gefunden, und geht, wie er gekommen. Schon im »Hesperus« bemerkten wir, daß eine eigentliche Entwickelung des Helden fehlt. Viktor ist am Ende des Romans nicht viel anders als im Eingang. Und so bleiben sich auch hier die Brüder gleich. Sollte die Entwickelungsidee dem Dichter unter den Händen verlorengegangen, sollte ihm die Kraft ausgegangen sein, eine solche Entwickelung zu zeichnen? Oder liegt das Problem nicht vielleicht doch tiefer? Noch soeben im »Titan« hatte Jean Paul eine enorme Aufwärtsentwickelung seines Helden zu gestalten vermocht. Hier ließ er diese Absicht wohl von Beginn an fahren. Die beiden Seiten des eigenen Wesens schwebten ihm in den Brüdern Harnisch vor. Tief griff er in der Handlung auf die eigenen Jünglingsjahre zurück. Deutlich lag der Ablauf seines Lebens vor ihm von der Joditzer Kindheit bis zur Baireuther Gegenwart. Und wenn er nach der Entwickelung der eigenen Persönlichkeit fragte, so fand er vielleicht auch hier keine greifbare Kurve, und das Nacheinander löste sich in einem Nebeneinander auf.
Es ist seltsam, wie wenig man bei Schaffenden von eigentlicher Entwickelung sprechen kann, abgesehen von der plötzlichen oder allmählichen Entfaltung des inneren Stoffes und der Technik. Wenn man die Briefe des Kandidaten Richter aus der Töpener und Schwarzenbacher mit denen der Baireuther Zeit vergleicht, so sind die ersteren in Einzelheiten des Bildungs- und Weltstoffes vielleicht noch befangen und ungelöst, aber der Mensch dahinter ist derselbe, wie er auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft steht. Und wirklich handelt es sich bei Jean Pauls Entwickelung mehr um das Nebeneinander des rein dichterischen Menschen und des Humoristen als um das Nacheinander besonderer Einstellungen. Mit Dichteraugen schaute der junge Mulus in die Welt, als er seinen Jugendroman »Abelard und Heloise« schrieb. Dann bekam der Satiriker die Oberhand unter dem Eindruck der rationalistischen Strömungen, die über Deutschland lagerten. Und allmählich durchbrach wieder das rein Dichterische die rationalistischen Oberschichten, doch ohne sie ganz sublimieren zu können. Der Dichter und der Humorist, sie lebten als zwei verschiedene Wesen in Jean Paul nebeneinander, sich gegenseitig störend und aufhebend und die letzte Harmonie verhindernd. Die »Flegeljahre« waren der Ausdruck dieser Doppelnatur. Man kann das Fehlen eines ausgleichenden Entwickelungsmomentes in dem Roman vermissen, aber er wäre künstlich hineingetragen erschienen und hätte die Wahrheit des inneren Bekenntnisses vernichtet. In dieser Zweiheit gab es keine Entwickelung, nur das Schwingen der Seelenkräfte zwischen den Polen. Zugleich aber hatte dieses unauflösliche Nebeneinander seinen tiefen Sinn. Hier offenbarte sich mehr als die persönliche Antinomie Jean Pauls, offenbarte sich zugleich der ewige Zwiespalt des deutschen Wesens, dessen Ausgleich die ewige Aufgabe des Deutschseins ist, das ewig Aufgegebene, dem die Erfüllung nur in der Idee und eben nur als Aufgabe zuteil wird.
Ein Werk,
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