Saemtliche Werke von Jean Paul
letzten, fast zwanzig Jahre dauernden Periode geschaffen wurden, so erscheint sie gering neben den umfangreichen Werken der etwa ebensolange dauernden vergangenen Perioden. Nichts aber wäre falscher, als wenn man den Eindruck mitnähme, als hätte Jean Pauls Schaffenskraft abgenommen. Neben den neuen Arbeiten waren die alten Werke zu betreuen. Den Neuauflagen hat der Dichter eine bis ins einzelnste gehende Sorgfalt angedeihen lassen. Keine Neuauflage irgendeines seiner Werke – und sie alle erlebten jetzt solche – ging vorüber, ohne daß Jean Paul umfangreiche Veränderungen vornahm. Ganze neue Bände fügte er an, arbeitete alles stilistisch um, fügte Szenen und ganze Seiten hinzu. Sein Werk, wie es uns heute vorliegt, erhielt in dieser letzten Schaffensperiode erst seine endgültige Gestalt. Dazu kam eine geradezu unübersehbare Fülle von kleineren Arbeiten, die er in Cottas »Morgenblatt« oder im »Taschenbuch für Damen« des gleichen Verlages erscheinen ließ. Auch für das Wilmansche »Taschenbuch für Liebe und Freundschaft« und die Brockhaussche »Urania« lieferte er fortgesetzt Beiträge. Für die beiden letzteren Zeitschriften hauptsächlich, um seine Schwägerin Minna Spazier, die beide Blätter herausgab, zu unterstützen. Eine Menge von Rezensionen lieferte er für die Heidelberger Jahrbücher. Diese kleinen Arbeiten füllen eine Reihe von umfangreichen Bänden. Da sind die mehr wissenschaftlichen Abhandlungen, die er für die unter Dalbergs Leitung stehende Frankfurter Gelehrtengesellschaft schrieb, die ihn zum korrespondierenden Mitglied ernannt hatte. Er vereinigte sie in einem »Museum« benannten Band und widmete sie der Gesellschaft. Da sind drei Bändchen voll kleinerer Dichtungen, die als »Herbstblumine« vereinigt wurden, und ein ganzer Band »Gesammelte Aufsätze und Dichtungen«. Sämtliche politische Schriften und Dichtungen wurden nach dem glücklichen Ausgang der Befreiungskriege unter dem Titel »Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche« zusammengefaßt. Und dies ist der Band, der Jean Pauls Umstellung seit den ersten politischen Schriften am deutlichsten sichtbar macht. Neben diesen zahlreichen Bänden kleinerer Schriften und Dichtungen brachte diese letzte Periode aber eine ganze Reihe größerer Idyllen und Humoresken hervor, die zum Teil den Umfang kleiner Romane haben, und einen Roman, der noch einmal eine große Konzeption aus den letzten Lebensjahren darstellt.
Eine ganze neue Welt war mit Gestalten zu bevölkern, und sie wurde bevölkert. Etwas grundsätzlich Neues springt bei allen diesen Gestalten ins Auge. In allen seinen bisherigen Arbeiten war Jean Paul im Bereich der Gegenwart geblieben. Er gab in seinen Dichtungen gewissermaßen Antwort auf die Probleme des gegenwärtigen Lebens, die auf ihn einstürmten. Wir hatten ihn begleitet, wie er aus bisher unberührten Schichten in die geistige Gegenwart hineinwuchs und sich in ihr heimisch machte. Unmittelbar wie sein Erleben mußte die Antwort sein, in der er auf das Erleben des Zeitgeistes als einer Gegenwart reagierte. Wir können uns seine Romane und Idyllen ebensowenig in einer andern Zeit spielend denken als etwa bei Dostojewski. Nun aber wird es anders. Er hatte zum Leben Distanz gewonnen, und in gleichem Grade rückt die Wirklichkeit in seinen Dichtungen zurück, wird zur Vergangenheit. Er betont es nicht ausdrücklich, ja er wird sich dieser Umstellung nicht einmal bewußt. Denn wo er Zeitkolorit geben muß, wie in »Dr. Katzenbergers Badereise«, zeichnet er wiederum Gegenwart. Aber im allgemeinen haben jetzt seine Geschichten einen zeitlosen, vielleicht einen mittelalterlichen Charakter. Das kam nicht allein von der Einwirkung des Don Quichotte, sondern er tauchte tiefer in das Wesen seines Volkes hinein. Er ging an die Wurzel der Formen, die er vorfand, und ganz von selbst nahmen sie bei dem Bürger eines mitteldeutschen Duodezstaates, der noch die Staatsformen des ausgehenden Mittelalters bewahrt hatte, eine etwa die Mitte des 17. Jahrhunderts widerspiegelnde Färbung an. Das war nicht die romantische Beschwörung einer großen Vergangenheit, im Gegenteil. Das deutsche Volk hatte er zu neuer Beseelung aufrufen wollen. Es gelang nicht. Da zeichnete er das Bild des Volkes in seiner tiefsten Zerrissenheit und Ohnmacht, mit all den Spießbürgerlichkeiten, die sich einer großen Bewegung entgegenstellten, mit all der feigen Angst, hinter der ein halbes Jahrhundert des grausamsten und
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