Saemtliche Werke von Jean Paul
etwa in seinen liebevoll ausgesponnenen Vorreden – von sich und seiner Tätigkeit sprach. Ein Schuß gesunder Skepsis, der er sich als genialer Beobachter und Einfühler nicht ganz hatte entziehen können. Jetzt wurden diese, bisher nur leise angedeuteten Zweifel zum Mittelpunkt seines Schaffens. Gerade angesichts der politischen Lage, der er trotz des ganzen Einsatzes seiner Persönlichkeit doch hilflos und einflußlos gegenüberstand, mußten sich diese Zweifel bei ihm verstärken. Peinliche Fragen mochten ihm aufsteigen: War das Schriftstellererlebnis als solches nicht fast unabhängig von Wert und Bedeutung des Werkes? Erlebte er es nicht an sich selber, von welchen Zufälligkeiten und Nichtigkeiten jeder Erfolg abhing? Sah er nicht an Herder, daß die höchsten Leistungen wirkungslos und einflußlos verpuffen können? War nicht von seinen ersten Romanen gerade der reifste, »Siebenkäs«, fast unbemerkt vorübergegangen? Hatte nicht gerade sein größtes Werk, der »Titan«, eine Periode allgemeiner Mißachtung gegen ihn eingeleitet? Diesem Mißverhältnis lohnte es, im Ernste, das heißt im Spaße, nachzugehen. Hier war für eine, ganz aus den Zeitproblemen abgelöste Dichtung ein stofflicher Ansatzpunkt gefunden. Dieser Einstellung kam nun ein höchst eigenartiger Einfall zu Hilfe: der in den Schulen von Ansbach und Baireuth eingeführten Fibel für Abcschützen einen Verfasser unterzulegen, einen ganz richtigen Autor, der in inneren und äußeren Kämpfen seinem Werk, das hier ganz als schriftstellerisches Werk genommen wird, zureift, und an diesem Autor einer Schulfibel das Schriftstellerschicksal aufzurollen von der Besessenheit des ersten Einfalls bis zur Vollendung und dem Hinauswachsen über sich selber und das Werk und die irdische Gebundenheit überhaupt. Kein Stoff konnte mehr Jean Pauls Einstellung zu seinem eigenen Schaffen zu Hilfe kommen als dieser. In der »Erklärung der Holzschnitte zu den zehn Geboten« in dem Baireuther Katechismus hatte dieser Gedanke bereits einen Vorläufer gehabt. Aber erst jetzt wurde er zu voller Wirksamkeit ausgeprägt.
Doch schon nach wenigen Wochen drängte sich eine andere Arbeit dazwischen, die es zunächst wegzuräumen galt: »Des Feldpredigers Attila Schmelzle Reise nach Flätz.« Auch diesem Einfall lag die Frage nach dem Verhältnis zwischen Geist und Wirklichkeit zugrunde, zwischen Schein und Wesen, Sein und Leistung. Der Feldprediger Schmelzle vom Regiment Schabacher hat den Abschied erhalten, und es geht das Gerücht, weil er in der Schlacht bei Pimpelstadt feige das Regiment verlassen habe und geflohen sei. (Wieder taucht hier das schon in der »Belagerung von Ziebingen« angeschlagene Motiv der Angst auf.) Schmelzle glaubt dieses Gerücht zerstreuen zu müssen. Er verfaßt eine Denkschrift über sein Verhalten an den General Schabacher, in der er bittet, die ihm ungerechterweise entzogene Feldpredigerstelle in eine katechetische Professur umzuwandeln. Diese Denkschrift dem General selbst aus besonderen Gründen am 23. Juli vor dem Markttage um 5 Uhr in Flätz eigenhändig zu überreichen, macht er sich auf die Reise dorthin. Seine Abenteuer auf dieser Reise beschreibt er in einem »Zirkelbrief an meine Freunde«, der zugleich seinen Mut in den gefährlichsten Lagen erweisen soll, um so das Gerücht seiner Feigheit mit einem Schlage zu erledigen. Aber dieser Zirkelbrief enthüllt mehr von dem wahren Wesen des Verfassers, als beabsichtigt worden. Wie man sieht, ist Schmelzles Reise ein Gegenstück zu »Fälbels Reise«, die zur Zeit der »Unsichtbaren Loge« entstand. Dort wie hier ist es auf unfreiwillige Komik und Selbstenthüllung abgesehen. Jean Paul betont in der Vorrede, daß er nur ein »Porträt im französischen Sinne«, eine Charakterstudie habe liefern wollen. Aber welch eine Fülle von Leben ist in dieses Porträt eingeflossen! Was in der französischen Literatur an Charakterstücken nach dem Muster Theophrasts voranging, ist hier aus dem Bereich der Psychologie in die Ebene des Epischen erhoben worden. Aus dem »Charakter« ist ein Mensch geworden. Aus der Studie, die interessiert, ein Erlebnis, das erschüttert; und wenn es nur die Erschütterung des Lachens wäre.
Kein Zweifel: Schmelzle mit dem wilden Vornamen Attila und dem kriegerischen Amt, ist ein Feigling. Die Angst schüttelt ihn. Aus jeder Lage fließen ihm Gefahren: aus heiterem Himmel kann der vernichtende Strahl fahren, geschweige denn aus der drohenden Wolke. Sogar der
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