Saemtliche Werke von Jean Paul
zerstörendsten Krieges stand. Dieses Volk, wie er es jetzt zeichnet, ist nicht mehr Träger eines welthistorischen Geschehens, es ist Objekt eines völkerverschlingenden Schicksals, Beute einer aus einem Jahrhundert voller Entsetzen aufsteigenden Angst. Die »Politischen Fastenpredigten« enthielten neben der »Friedenspredigt« und den »Dämmerungen« zwei Grotesken, wie »Die Belagerung der Reichs-Festung Ziebingen« und »Die Doppelheerschau in Großlausau und in Kauzen, samt Feldzügen«. »Jedes Volk vergeht wie ein faulender Schwamm, wenn es keinen Mut mehr hat«, hatte er in der »Friedenspredigt« geschrieben. Jetzt zeigte er dieses Volk ohne Mut, von der Angst geschüttelt. Eine groteste Grimmelshausen-Manier führt seine Feder. Anlaß gaben die übereilten Übergaben preußischer Festungen an die vordringenden französischen Heere. Das Bild des deutschen Volkes aber, das er hier entwarf, war das des vom Dreißigjährigen Kriege um und um geschüttelten. Und das Ethos, das dahinterstand, war dieses: so sieht ein Volk ohne belebende Idee aus, ein Volk, dem die Territorialdynastien das Mark aus den Knochen gesaugt haben. Ein feiges Verkriechen vor den Gefahren der Schlacht oder höchstens ein willenloses Dem-Schicksal-den-Rücken-Hinhalten. Es war das Deutschland nach dem Westfälischen Frieden, das er hier zeichnete, das Deutschland der unzähligen Duodezfürstentümer ohne innere Idee und Größe. Und wenn das jetzt unter Napoleon zusammenbrechende Deutschland die gleichen Züge aufwies, dann um so schlimmer! Dann mußte dieses Deutschland vergehen wie faulender Schwamm, bis eine neue, belebende Idee das Volk zu seiner Größe aufrüttelte. Das ist der Sinn dieser in die »Politischen Schriften« eingestreuten Grotesken.
Aber in den Arbeiten selbst wird dieses Ethos kaum noch sichtbar. Hier wird nicht mehr wie in den Satiren an den Pranger gestellt, hier wird geschildert, und mit einer fast gefräßigen Freude an der Schilderung selbst. Die Angst der braven Reichsstädter aus der Reichsfeste Ziebingen wird mit einer Behaglichkeit vorgetragen, die Gottfried Keller vorwegnimmt. Das ist das ästhetisch Neue an der letzten Periode des Jean Paulschen Schaffens: diese zum Selbstzweck erhobene Schilderung. Erst jetzt, nachdem die großen Ziele dahingesunken, ist die Darstellung auf sich selbst gestellt. Ein heiteres Musikantentum der Sprache bricht los, eine Freude am Virtuosischen des Worts. Jetzt erst wurde die Ernte einer dreißigjährigen Bemühung um die Sprache eingebracht. Zuerst in der Groteske »Mein Aufenthalt in der Nepomukskirche während der Belagerung der Reichsfestung Ziebingen«.
Der hier geschilderte Städtekrieg nimmt von der Gänsegemarkung ihren Anfang. Die Ziebinger haben zusammen mit der Gemeinde Diebsfehra eine Gemeinhut, auf der die Gänse beider Städte geweidet werden. Unglücklicherweise fällt am 4. Mai ein starker Hagel auf die Wiese, so daß vierzig, teils Gänse, teils Ganter, erschlagen werden. Der Ziebingsche Gänsehirt läßt in edlem Patriotismus alles Erschlagene liegen und treibt alles Überlebende in seine Stadt ein, als hätte der Hagel nur Diebsfehrasche Gänse erschlagen. Beiderseits werden Gutachten über den Vorfall ausgefertigt, aber das Endergebnis ist, daß die Diebsfehraer die Reichsfestung mit Krieg überziehen. Die Festung wird in den Belagerungszustand versetzt. Zum Unglück wird Jean Paul mit dem Buchdrucker Peter Stöcklein gleichfalls eingeschlossen. Die Belagerer haben ein schweres Geschütz aufgefahren, das Schuß auf Schuß in die Festung hineindonnert. Der wackere, tüchtige Kommandant mit dem eigenartigen Namen »Ich sterbe täglich und mein Leben«, eine wahrhaft groteske Figur, wie aus einem Schildaer Chronikbuch herausgeschnitten, trifft die Gegenmaßregeln. Alles Wehrfähige wird auf die Beine gebracht, die Fenster und Türen werden mit Dung gegen das Geschützfeuer zugedeckt. Der einzig sichere Aufenthalt aber ist die bombensichere Nepomukskirche, die denn auch zum Hauptquartier erhoben wird. Von der Kanzel der Kirche herab hält der Kommandant Betstunden zur Entflammung des Muts ab und setzt Preise für die kühnsten Träume aus. Jedes Gewehr nimmt er erst selbst auf seine Schulter und verleiht es dann seinem Besitzer gewissermaßen als Ehrensäbel. Alle von früheren Belagerungen her in Gebäuden sitzenden Kanonenkugeln werden ausgebrochen, um von neuem verwendet zu werden. Leider hat der Stadtkämmerer das einzige Geschütz vor wenigen Monaten
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