Säule Der Welten: Roman
sah sie, was es war: sie versuchten, eine schwere Leiter umzustoßen, die von außen angelehnt worden war. Gerade als ihr das klar wurde, tauchte das graue Gitter einer zweiten Leiter aus der Dunkelheit auf und prallte mit dumpfem Schlag gegen das Mauerwerk.
Heftiges Feuer von unten trieb die Lirisianer von der Dachkante zurück. Sie waren gezwungen, sich ein bis zwei Meter dahinter niederzukauern und mit ihren Spießen nach den Leitern zu stochern.
Eine dritte Leiter erschien, und jetzt schwärmten die Feinde in Scharen auf das Dach. Die Lirisianer standen auf. Venera sah, wie sich vor Eilen, die ein rostiges altes Schwert schwenkte, eine Gestalt in roter Eisenrüstung aufbaute.
Venera hob ihre Pistole und schoss. Immer weiter feuernd, ging sie auf Eilen zu, bis der Mann, der ihre Freundin bedrohte, zu Boden stürzte. Er war nicht tot - sein Panzer war so dick, dass ihn die Kugeln wahrscheinlich nicht durchschlagen hatten -, aber er hatte sich ordentlich den Kopf angestoßen.
Knapp zwei Meter vor den beiden klickte ihre Pistole nur noch. Es war die Waffe, die ihr Corinne gegeben hatte; sie hatte keine Ahnung, ob sie mit dem gleichen Kaliber zu bestücken war, wie die Lirisianer es verwendeten.
Und sie musste feststellen, dass sie nicht einmal den Verschluss öffnen konnte, um nachzusehen. In diesem Augenblick krabbelten zwei Männer wie Metallkäfer über die Mauer, ihre Panzer glänzten im Feuerschein.
Venera stellte Eilen ein Bein und trat zwischen sie und die beiden Männer, als die Freundin hinter ihr zu Boden stürzte. Dem vorderen verpasste sie im Sprung einen Tritt, er wedelte mit den Armen und wich dann zurück. Venera selbst wurde drei Meter weit nach hinten geworfen. Sie landete hart, sah sich nach Eilen um und rief: »Komm mit!«
Moss rammte dem zweiten Mann seinen Spieß gegen den Helm. Neben ihm stieß Odess mit einer brennenden Fackel nach einem dritten, der gerade von der Leiter trat. Schüsse krachten, und jemand stürzte, aber Venera konnte bei dem Gedränge nicht sehen, wer es war.
Sie packte Eilen am Arm. »Wir brauchen Waffen! Liegen noch welche in den Schränken?«
Eilen schüttelte den Kopf. »Es reichte kaum für die Soldaten. Aber wir haben das hier.« Sie streckte den Arm aus.
Hinter dem Innenhofschacht stand immer noch das alte filigrane Morgengewehr auf seinem Dreibein unter dem kleinen Dach. Venera blieb das Lachen in der Kehle stecken. »Na, dann los!«
Die beiden Frauen zerrten die Waffe von ihrem Ständer. Sie war massiv und schlecht zu handhaben, auch wenn sie bei dieser Schwerkraft nicht viel wog. »Haben wir Munition dafür?«, fragte Venera.
»Keine Patronen, nur Kugeln«, antwortete Eilen. »In dem Behälter ist Schwarzpulver.«
Venera öffnete den Verschluss, eine lächerlich primitive Konstruktion. Man schüttete Schwarzpulver in eine Kammer, dann setzte man die Kugel auf und ließ den Bügel einrasten. Anstelle eines Aufschlagzünders gab es ein Zündrad. »Dann wollen wir mal.«
Eilen packte den Kasten mit den Kugeln und einen Sack mit Pulver, und beide rannten am Innenrand des Dachs entlang. Eilen stolperte im Dunkeln, und Venera sah die Kugeln nach allen Seiten über den Hof kullern. Eilen schrie frustriert auf.
Eine der Kugeln hüpfte vor Veneras Füßen über das Pflaster. Sie klemmte sich das Gewehr unter einen Arm, bückte sich und hob das Projektil auf. Kribbelnde Kälte breitete sich über ihren Nacken und ihre Schultern aus.
Die Kugel war identisch zu dem Projektil in ihrer Jackentasche - bis auf die Tatsache, dass die hier nie abgefeuert worden war.
Die Kugel, die sie bei sich trug - die, Städten und Farmen, Fischen, Felsen und ozeangroßen Wasserkugeln geschickt ausweichend, Tausende von Kilometern durch Virgas Luft- und Wolkenräume geschwebt war, Slipstream und die Stadt Rush und das Fenster in der Admiralität, hinter dem Venera nichtsahnend stand, ins Visier genommen, jählings das Glas zerschmettert und sich in ihren Kiefer gegraben, sie zurückgeschleudert und ihr für alle Zeit das Gefühl schmerzlicher Ungerechtigkeit eingebrannt hatte - sie war von hier gekommen. Sie war nicht in einem Kampf abgefeuert worden. Nicht aus Feindseligkeit. Nicht um jemanden zu ermorden, sondern aus Tradition, zur Feier eines ganz gewöhnlichen stillen Tagesanbruchs.
Immer wieder hatte sich Venera diesen Moment ausgemalt. Immer wieder hatte sie sich überlegt, was sie dem Besitzer des Gewehrs sagen wollte, wenn sie ihn endlich gefunden hätte. Sie hatte sich
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