Säule Der Welten: Roman
den Diwan zurück. Durch das offene Fenster drangen Schüsse und Schreie herein, aber der Lärm wurde durch die Weltrandwinde über dem Schacht des Innenhofs so gefiltert, dass man ihn fast ignorieren konnte.
Venera schaffte es, auch die Emotionen, die sie zu überfluten drohten, fast zu ignorieren. Sie hatte noch immer überlebt, indem sie einen kühlen Kopf bewahrte, und gerade jetzt durfte ihr diese Fähigkeit nicht abhanden kommen. Es war lästig, dass sie sich so verlassen und verloren fühlte. Lästig auch, dass sie so dankbar war für die Gesellschaft ihrer früheren Kollegen. Sie musste ihr inneres Gleichgewicht wiederfinden und dann ihre eigenen Interessen verfolgen, wie sie es immer getan hatte.
Im Korridor wurde es unruhig, dann riss ein Mann die Tür auf. Er war voller Ruß und Staub, sein Haar war zerrauft und der linke Ärmel seiner Jacke zerfetzt.
Venera sprang auf. »Garth!«
»Da bist du ja!« Er lief zu ihr und umarmte sie stürmisch. »Du lebst!«
»Mir geht’s … Uff! Gut. Aber was ist mit dir passiert?«
Garth wich zurück, ohne ihre Arme loszulassen. Er hatte ein irres Flackern in den Augen, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte. Ihrem Blick wich er aus. »Ich habe nach dir gesucht«, sagte er. »Draußen. Die anderen, die sind alle da unten und kämpfen rings um das Gebäude. Sacrus hat uns umzingelt, die suchen hier etwas, ganz dringend, und unser Entsatzheer bemüht sich, von draußen durchzubrechen. Deshalb machen die Liris-Truppen unter Führung von Anseratte und Thinblood einen Ausbruchsversuch - sie wollen einen Korridor schaffen …«
Venera nickte. Die Ironie bestand darin, dass es bei dem Kampf höchstwahrscheinlich um sie ging, aber das konnten Anseratte und die anderen nicht wissen. Sacrus wollte den Schlüssel, und Sacrus wusste, dass Venera hier war. Natürlich würden sie mit all ihren Kräften gegen Liris vorgehen, um ihn zu bekommen.
Wenn Guinevera sie vor einer halben Stunde von der Mauer geworfen hätte, wäre der Kampf bereits vorbei.
Garth spielte eine Weile mit den Fetzen seiner Jacke, dann brach es aus ihm heraus. »Venera, es tut mir so entsetzlich leid!«
»Was denn?« Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »So schlimm steht es doch gar nicht. Oder meinst du …?« Sie dachte an Bryce, der vielleicht grotesk verrenkt und mit gebrochenen Knochen am Fuß der Mauer lag. »Oh«, sagte sie, und in ihrem Innern zog sich alles zusammen.
Er setzte gerade zum Sprechen an - sicher wollte er ihr mitteilen, dass Bryce tot war -, als sich draußen die Geräusche veränderten. Die fernen, ungezielten Schüsse
klangen plötzlich sehr laut und sehr nahe. Vor den offenen Fenstern gellten Entsetzensschreie.
Venera rannte mit Odess und Eilen hinüber und streckte den Kopf hinaus, um durch den Innenhof nach oben zu schauen. Auf dem Dach waren Leute zu sehen.
Sie wechselte einen Blick mit Odess. »Sind das unsere …?«, begann sie, aber die Antwort war klar.
»Sacrus ist in den Mauern!« Der Schrei wurde von den anderen aufgenommen, und alle rannten zu den Türen und strömten an Garth Diamandis vorbei, der immer noch weitersprach, aber bei dem Lärm nicht zu hören war.
Venera blieb vor ihm stehen und zuckte die Achseln, dann packte sie ihn am Arm und zerrte ihn hinter sich her in den Korridor.
Liris’ gesamte Bevölkerung rannte die Treppen hinauf. Die Leute hielten Spieße, Küchenmesser, behelfsmäßige Schilde und Keulen in den Händen. Sie trugen alle nur ihre normale Alltagskleidung, aber die bot mehr Schutz als manche Panzerung. Auch ein oder zwei Soldaten waren darunter - wahrscheinlich die Männer, die Jacoby Sarto bewacht hatten. Sie versuchten verzweifelt, so etwas wie Ordnung in das Gedränge zu bringen.
Garth starrte die Menge an und schüttelte den Kopf. »Da kommen wir niemals durch.«
Veneras Blick ging zum Fenster. »Ich habe eine Idee.«
Sie schwang ein Bein über das Fensterbrett. Garth streckte neben ihr den Kopf hinaus und schaute nach oben. »Es ist gefährlich«, sagte er. »Jemand könnte uns einfach runterstoßen, bevor wir richtig auf den Beinen sind.«
»Bei dieser Schwerkraft verstauchen wir uns höchstens den Knöchel. Komm schon!« Sie kletterte rasch an der Wand empor und geriet über der Treppe in den Schein der Fackeln. Schüsse waren zu hören. Die Hälfte der Bevölkerung befand sich am anderen Ende des Daches und bemühte sich verzweifelt, etwas abzuwehren. Venera blinzelte, dann kniff sie die Augen zusammen, und endlich
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