Säule Der Welten: Roman
Moss. »Ihr müsst Sacrus’ Linien durchbrechen. Sonst überrennen sie uns, und dann brauchen
sie sich nur noch umzudrehen und mit einer sicheren Festung im Rücken auf unsere Armee zu warten.«
Er nickte. »Aber alle unsere Anführer sind g-gefangen.«
»Nein, nicht alle.« Sie schritt über das Dach zu der Mauer über dem Dornengestrüpp. Er trat an ihre Seite. Gemeinsam blickten sie hinaus über das Heer, das knapp außer Reichweite war.
»Wenn der Telegraf funktionieren würde …« Sie musste an Bryce denken und brach ab. Moss schüttelte ohnehin den Kopf.
»S-Sacrus hat den T-Turm umzingelt. Sie würden jede Nachricht abfangen.«
»Aber wir müssen den Angriff koordinieren - von außen und innen gleichzeitig. Um durchzubrechen …«
Er zuckte die Achseln: »Kleinigkeit. Wir b-brauchen nur eine P-Person durch die L-Linien zu b-bringen.«
Sie überlegte. Würden die Generäle jenes Heeres sie festnehmen lassen, wenn sie dort im Gestrüpp auftauchte? Wie weit hatten sich ihre diversen Täuschungsmanöver schon herumgesprochen?
»Die Leute sollen sich bereitmachen«, sagte sie. »Alle legen Panzerung an, alle bewaffnen sich. Ich bin in zwei Minuten wieder da.« Sie steuerte auf die Treppe zu.
»Wo g-gehst du hin?«
Sie warf ihm ein grimmiges Lächeln zu. »Ich spiele jetzt unsere Trumpfkarte aus.«
Venera rannte durch die leeren Gänge zum alten Gefängnis im ersten Stock.
Es war, wie sie vermutet hatte. Die Wärter hatten ihren Posten verlassen, als das Dach erstürmt wurde.
Die Vordertür war nur angelehnt; Venera wurde langsamer, als sie es sah. Sie stieß die Tür behutsam mit der Fußspitze auf und zielte mit der Pistole in den Vorraum. Da war niemand. Sie wagte sich hinein.
»Hallo!« Das war Jacoby Sarto. Venera hatte noch nie Besorgnis in seiner Stimme gehört, aber jetzt war seine Erschütterung unverkennbar. Er war noch nie in einer Schlacht, dachte sie - und das galt auch für alle anderen. Die Erkenntnis, dass sie hier die Veteranin sein sollte, traf sie wie ein Schock.
Venera schlich auf Zehenspitzen zur Tür des Empfangsraums und schaute durch das Fensterchen in das Zimmer mit den grünen Wänden. Sarto saß allein auf einer Bank, auf der dreißig Personen Platz gefunden hätten; und er saß allein in der Mitte eines Raums, der für hundert Personen ausgereicht hätte. Er betrachtete die Tür mit zusammengekniffenen Augen, dann sagte er: »Fanning?«
Sie stieß die Tür auf und trat ein. »Haben Sie es ihnen verraten?«
Er schien überrascht. »Wem soll ich was verraten haben?«
Sie zeigte ihm ihre Pistole; er konnte nicht wissen, dass sie nicht geladen war. »Keine Spielchen, Sarto. Jemand hat Guinevera verraten, wer ich wirklich bin. Waren Sie es?«
Sein Lächeln zeigte Spuren seiner gewohnten Arroganz. Er stand auf und zog die Ärmel des eleganten Hemds zurecht, das er immer noch trug. »Läuft etwa da draußen nicht alles nach Ihren Wünschen?«
»Zwei Punkte«, sagte Venera und hielt zwei Finger in die Höhe. »Erstens: ich habe eine Waffe auf Sie gerichtet.
Zweitens: Sie werden mit rasender Geschwindigkeit entbehrlicher.«
»Schon gut, schon gut«, sagte er gereizt. »Seien Sie nicht so empfindlich. Immerhin bin ich aus freien Stücken mitgekommen.«
»Und das soll mich beeindrucken?« Sie lehnte sich gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme.
»Überlegen Sie doch selbst«, sagte er. »Was hätte ich davon, jemandem zu verraten, wer Sie sind?«
»Ich weiß es nicht. Sagen Sie es mir doch!«
Jetzt schaute er auf sie nieder wie auf eine einfache Dienerin, die es gewagt hatte, ihm ins Wort zu fallen. »Seit zweiunddreißig Jahren beschäftige ich mich mit allen Facetten der Ratspolitik. In dieser Zeit wurde ich zum Experten - vielleicht zu dem Experten in ganz Spyre, ich lernte, wer wem verpflichtet ist, wer ehrgeizig ist und wer nur nicht auffallen will. Ich bin schon sehr lange das öffentliche Gesicht von Sacrus, sein wichtigster Vertreter, denn in all den Jahren waren Spyre und seine Politik das Einzige, worauf es ankam. Und nun sehen Sie sich das an.« Er umfasste mit einer Handbewegung die Belagerung und die Schlacht hinter Liris’ dicken Mauern. »Alles, was mich einst wertvoll machte, wird gerade hinweggefegt.«
Das hatte Venera aus seinem Mund nicht zu hören erwartet. Sie trat in den Raum und setzte sich ihm gegenüber auf eine Bank. Sarto sah sie fest an und sagte: »Der Wandel ist für die meisten Bewohner von Spyre etwas Unvorstellbares; sie halten
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