Säule Der Welten: Roman
auf, feuerten ihre Donnerbüchsen ab und kauerten sich nieder, um nachzuladen, während Spiralen aus Rauch und Feuer über den Himmel zogen. Venera hatte immer noch ein Rauschen in den Ohren, und alles wirkte seltsam weit weg. Als sie aufstand, fegte der Wind die große Karte vom Tisch und ließ sie waagerecht in die Nacht entschweben.
Wer hat mich verraten?, überlegte sie vage. Hatte sich Moss gegen sie gewandt? Oder war Odess eine unbedachte Bemerkung entschlüpft? Wahrscheinlich hatte ein Soldat oder Diener von Liris den Mund nicht halten können … Möglicherweise hatte sich auch Jacoby Sarto in der Gefangenschaft gelangweilt und beschlossen, etwas Schwung in die Sache zu bringen.
Venera nahm am Rande wahr, dass der plumpe Würfel von Liris auf drei Seiten von bogenförmig angeordneten Fackeln umgeben war. Der rötliche Schein fiel auf die grimmigen Gesichter der Soldaten, die an ihr vorbeistürmten. Sie hob die Hand, um einen von ihnen anzuhalten, besann sich dann aber eines Besseren. Wenn Guinevera nun daran gedacht hätte, ihre Festnahme anzuordnen? - Oder sie töten zu lassen? Je länger Venera über ihre neue Lage nachdachte, desto mehr wuchs ihre Angst.
Vielleicht sollte sie nach drinnen gehen. Liris hatte feste Mauern, und sie hatte dort immer noch Freunde - jedenfalls war sie dessen halbwegs sicher. Sie könnte - was? - Jacoby Sarto in seiner Zelle besuchen und ein wenig mit ihm plaudern?
Wo war eigentlich Bryce? Beim Telegrafen, richtig; er hatte eine Nachricht senden wollen. Sie musste sich zusammennehmen: die Telegrafenstation lag dort drüben … aber da klaffte jetzt eine große Lücke in der Mauer. Einige Soldaten legten gerade Planken darüber.
»O nein.« Nein, nein, nein.
Tief in ihrem Innern ließ sich ein höhnisches Stimmchen vernehmen, das immer da gewesen war. »Natürlich, wieder das alte Lied. Am Ende lassen sie dich alle im Stich.« Sie sollte sich über diese Wendung eigentlich nicht wundern; sie hatte sie in den Tagen nach ihrer Legitimation sogar in ihre Pläne mit einbezogen. Sie dürfte nicht schockiert sein. Deshalb war es seltsam, sich wie einer fremden Person zuzusehen, wie sie sich neben der Fahrstuhlanlage im Zentrum des Dachs niederkauerte, die Arme um sich schlang und in Tränen ausbrach.
Das bin nicht ich. Sie wischte sich über das Gesicht. Nein.
Oder vielleicht doch; sie konnte sich nur noch undeutlich an jene ersten Minuten in Candesce erinnern, in denen sie allein gewesen war, nachdem sie Aubri Mahallan getötet hatte. Hayden Griffin hatte Mahallans Leiche aus ihrem Blickfeld gezogen und nur ein paar frei schwebende Blutstropfen zurückgelassen. Sie war auf Griffin angewiesen, um Candesce wieder zu verlassen, und sie hatte soeben seine Geliebte getötet. Was nützte es ihr, dass sie es nur getan hatte, um die Welt vor Mahallan und ihren Verbündeten zu retten? Niemand würde es je erfahren, und sie war sicher, dass sie hier sterben würde; sie brauchte nur zu warten, bis Candesce seine Fusionsaugen öffnete und der Welt den Morgen brachte.
Griffin hatte sie aufgefordert, mit ihm zu kommen. Er hatte versprochen, sie nicht zu töten; Venera hatte ihm nicht geglaubt. Das Risiko war zu groß gewesen. Letztlich war sie ihm heimlich gefolgt und hatte Candesce in dem Frachtnetz verlassen, das er hinter sich herzog. Jetzt erfüllte sie die Vorstellung, zur Treppe zu laufen und sich ihren ehemaligen Verbündeten auszuliefern, mit ähnlicher Furcht. Lieber machte sie sich ganz klein und ließ es darauf ankommen, dass Guinevera oder seine Männer sie entdeckten, als feststellen zu müssen, dass selbst Liris sie jetzt abwies.
»Dort sind sie!« Jemand deutete aufgeregt mit dem Finger. In der Ferne knatterten Gewehrschüsse in rasendem Staccato - eigentlich waren sie erstaunlich weit weg. Wenn Venera überhaupt Interesse aufgebracht hätte, wäre sie vielleicht aufgestanden, um nachzusehen.
»Wir werden sie umgehen!«
Am Rand von Liris’ Territorium gab es eine Detonation. Der orangerote Pilz erhellte für einen Moment die ganze Welt, Gebäude und Zierteiche huschten über den Himmel. Ihre Bodentruppen mussten gleich nach Sacrus eingetroffen sein.
Nicht meine Truppen, dachte sie verbittert. Nicht mehr.
»Da ist sie!« Venera zuckte zusammen und wollte zurückweichen, aber sie lehnte mit dem Rücken ohnehin schon an der Fahrstuhlplattform. Vor ihr erhob sich eine gedrungene Silhouette, und etwas kam rasch auf sie zu. Sie duckte sich. Nichts geschah; sie blickte
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