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Säule Der Welten: Roman

Säule Der Welten: Roman

Titel: Säule Der Welten: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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Nähe konnte sie sehen, woraus sie bestanden:
    Buchstaben.
     
    Die Nation Liris schmiegte sich um ihren Innenhof, als krümmte sie sich vor Schmerzen. Alle Fenster gingen auf diesen Hof hinaus. Alle Balkone befanden sich auf dieser Seite, und die sechs Türme, die das Gebäude überragten, waren so angelegt, dass man auch von dort nur in den Hof schaute. Der Boden dieses Brunnenschachts hätte ständig im Schatten gelegen, wären da nicht die riesigen Spiegel auf dem Dach gewesen, die auf Candesce gerichtet waren.
    Der Hof war ohne Zweifel der Mittelpunkt des Geschehens - aber Venera konnte nicht sehen, was sich da unten abspielte. In den ersten zwei Tagen wurde sie an einem kurzen Gang, der anstaltsgrün gestrichen war, von einer Zelle zur anderen geschoben und jedes Mal nach einem kurzen Verhör in einen trostlosen Warteraum zurückgebracht. Dort saß sie, dort bekam sie zu essen, und dort konnte sie auf den unbequemen Bänken
schlafen. Jeden Tag wurde sie von einem einzelnen Schuss geweckt, der ganz in der Nähe abgefeuert wurde. Hinrichtungen im Morgengrauen?
    Sehr wahrscheinlich war das nicht; sie war die einzige Insassin des kleinen Gefängnisses. Denn ein Gefängnis war es tatsächlich. Sie musste Formulare ausfüllen, nur um den einzigen Waschraum benutzen zu können, ein eiskaltes Loch mit Holzkabinen, in deren Wände die Häftlinge über Jahrhunderte Zeichnungen eingeritzt hatten. Durch die hohen vergitterten Fenster konnte sie auf die oberen Stockwerke des Innenhofes sehen. Ein Hauch von Freiheit.
    »S-schon wieder Wecken?« Es war am dritten Morgen. Venera setzte sich hastig auf und rang sich ein Lächeln ab.
    Der Wärter war groß und von athletischer Gestalt und hatte jene ansprechend markanten Züge, wie man sie bei Schauspielern, Karrierediplomaten oder Trickbetrügern findet. Er wirkte so gepflegt, wie man es nur erwarten konnte, wenn jemand sich in Metall und Leder kleidete, und er hätte das Herz jeder Frau brechen können - vorausgesetzt, sie schaute ihm nicht in die Augen und hörte ihn nicht sprechen. Beides hätte die schreckliche Wahrheit über Moss verraten: sein Geist war umnachtet. Der Mann war eine Marionette und schien sich seiner Defizite tragischerweise auch noch deutlich bewusst zu sein.
    Genau wie tags zuvor trug er einen Stapel Formulare wie ein Silbertablett vor sich her. Venera seufzte, als sie es sah. »Wann sind die Aufnahmeformalitäten in diesem Gefängnis denn endlich abgeschlossen?«, fragte sie, als er klirrend vor ihr zum Stehen kam.

    »G-G-Gefängnis?« Moss starrte sie verständnislos an. Dann legte er die Papiere so vorsichtig auf die abgewetzte Bank, als wären sie aus Gold. Die Metallscharniere an seiner Kleidung quietschten leise, als er sich aufrichtete. »Sie sind n-nicht im Gefängnis.«
    »Was soll das denn sonst sein?« Sie deutete auf die schallschluckenden Gipswände, die fleckigen Wandleuchten und die abgewetzten Bänke. »Warum bin ich hier? Wann bekomme ich meine Sachen zurück?« Man hatte ihre Jacke durchsucht und den Inhalt - Schmuck, Schlüssel und Kugel - beschlagnahmt. Sie wusste nicht, welcher Verlust sie am meisten schmerzte.
    Moss’ Gesichtsausdruck veränderte sich beim Sprechen nicht, aber in seinen Augen stand eine flehentliche Bitte. Das war immer so, auch wenn er nur die Wand anstarrte. Die Augen schienen sprechen zu können, aber Venera hatte allmählich den Verdacht, dass nichts an Moss’ Äußerem oder seinem Verhalten irgendetwas über seinen Gemütszustand aussagte. Jetzt bemerkte er mit seiner auffallend tonlosen Stimme: »Sie befinden sich in der Einw-wanderungsbehörde der Regierung von Liris. Man hat Sie hierhergebracht, damit Sie Ihre Staatsb-bürgerschaftsp-prüfung ablegen k-können.«
    »Staatsbürgerschaft?« Doch jetzt fügte sich alles zu einem Bild - die Formulare, das Gefühl, datenmäßig erfasst zu werden, und die Serie von untergeordneten Beamten, die ihr in den letzten Tagen so viele Stunden ihrer Zeit gestohlen hatten. Sie hatten sie gnadenlos in die Mangel genommen, aber nicht einmal wissen wollen, wie und warum sie hierhergekommen sei oder welche Pläne und Verpflichtungen sie hätte. Sie hatten sich nicht einmal für ihren Sonnenbrand interessiert. Stattdessen
hatten sie die Krankengeschichten ihrer gesamten Verwandtschaft abgefragt und sich nach erblichen Geistesstörungen (die Frage hatte sie zum Lachen gebracht) und nach der Kriminalitätsrate innerhalb ihrer Familie erkundigt.
    »Nun ja, mein Vater hat einmal

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