Säule Der Welten: Roman
beiden Stühle in der Hütte absetzen. »Dem Aufruhr nach zu schließen hat sich die Dame auf den Weg gemacht. Ich bin nur ein Bauer, deshalb sieht man mich nicht - und solange das so bleibt, werden sie auch dich nicht fangen.«
»Probier das mal.« Sie knallte ihm einen Teller auf den Tisch. Er beäugte ihn skeptisch.
»Könntest du mir sagen, was du angestellt hast?«
»Was ich angestellt habe?« Sie kaute an ihrer Unterlippe und ignorierte die stechenden Schmerzen in ihrem Kiefer. »Nicht sehr viel. Mag sein, dass ich jemanden umgebracht habe.«
»Mag sein?« E r gluckste. »Du bist dir nicht sicher?« Sie zuckte nur die Achseln. Diamandis Miene wurde weicher. »Warum wundert mich das nicht?«, flüsterte er vor sich hin.
Sie aßen schweigend. Wenn dieser Tag so verlaufen wäre wie die letzten, dann wäre Diamandis jetzt auf das Feldbett gefallen, das Venera soeben verlassen hatte, und hätte sofort zu schnarchen begonnen und dem Wind damit Konkurrenz gemacht. Stattdessen sah er sie ernst an und sagte: »Es wird Zeit, dass du zu einer Entscheidung kommst.«
»Ach?« Sie faltete gleichgültig die Hände im Schoß. »Worüber?«
Er sah sie finster an. »Venera, ich vergöttere dich. Wäre ich zwanzig Jahre jünger, du wärst vor mir nicht sicher. Aber du bringst mich um Haus und Hof, und noch ein hungriges Maul zu füttern ist, nun ja, anstrengend.«
»Aha.« Veneras Miene hellte sich ein klein wenig auf. »Das Gespräch, das ich mit meinem Vater nie geführt habe.«
Diamandis unterdrückte ein Grinsen und zählte die Alternativen an den Fingern ab: »Erstens: du kannst dich den gepanzerten Männern ausliefern, die nach dir suchen. Zweitens: du kannst dich nützlich machen und mich bei meinen nächtlichen Streifzügen begleiten. Drittens: du kannst Spyre verlassen. Oder viertens …«
Sie runzelte die Stirn. »Hast du nicht gesagt, ich käme hier niemals weg?«, fragte sie.
»Das war gelogen.« Als er ihren Gesichtsausdruck sah, rieb er sich das Kinn und schaute weg. »Ich hatte eine schöne junge Frau in meinem Bett, auch wenn ich selbst nicht daneben lag, warum sollte ich sie gleich wieder fortschicken? Ja, es gibt einen Weg, um Spyre zu verlassen - möglicherweise. Aber es wäre gefährlich.«
»Das ist mir egal. Zeig ihn mir.« Sie stand auf. »Bleib sitzen, bleib sitzen. Es ist heller Tag, und ich bin müde. Ich muss erst noch schlafen. Der Weg zu den Bombenschächten ist weit. Und überhaupt … willst du die vierte Möglichkeit gar nicht hören?«
»Es gibt keine andere Alternative.«
Er war sichtlich enttäuscht. »Na schön«, seufzte er. »Dann lass mich jetzt schlafen. Heute Nacht sehen wir uns die Stelle an, und dann kannst du entscheiden, ob du das wirklich durchziehen willst.«
Sie hatten sich einen Weg durch ein Feld voller Unkraut gesucht. Hoch über ihnen drehte sich Klein-Spyre. Ringsum ragten die dunklen Häuser der großen Familien auf und setzten sich in zwei Richtungen fort bis zum Himmel. Diesmal hatte sich Venera die Anwesen im Vorbeigehen genauer angesehen; bei ihrer panischen Flucht zum Rand der Welt hatte sie kaum Zeit dafür gefunden. Während nun vom Rost zerfressene Eisentore und zerfallende Mauern an ihnen vorüberzogen, hatte sie die Muße, sich klarzumachen, wie sonderbar dieses Spyre tatsächlich war.
Auf dem steilen Dach eines Gebäudes, das hinter jahrhundertealten Eichen kaum zu sehen war, hatte ein hübscher Junge gestanden und gesungen. Zuerst hatte sie ihn für einen Automaten gehalten, doch dann machte er einen Fehler und geriet ins Stocken. Der Junge wurde von grellen Scheinwerfern angestrahlt und hielt sich einen goldenen Olivenzweig über den Kopf. Ob er seine Kunst in den Gärten und auf den Balkonen vor Zuhörern darbot, ob er jeden Abend eine solche Vorstellung gab, oder ob es ein seltener Anlass war, bei dem sie nur zufällig Zeuge geworden war - das alles würde sie niemals erfahren. Sie hatte Garth die Hand auf die Schulter gelegt und auf den Jungen gezeigt. Er hatte nur die Achseln gezuckt.
Andere Besitzungen waren dunkel und abweisend, die Gebäude von Kletterpflanzen und die Gärten von Dornengestrüpp überwuchert. Einmal war sie bis an ein Tor gegangen und hatte zwischen den Blättern hindurchgespäht. Garth hatte sie weggezogen. »Sie werden dich erschießen«, hatte er gesagt.
An einigen Stellen hatte sich die Architektur in sich zurückgezogen und war für Menschen unverständlich, ja unbewohnbar geworden. Aus den Wänden stattlicher
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