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Säule Der Welten: Roman

Säule Der Welten: Roman

Titel: Säule Der Welten: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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Dabei stieß er mit dem Kopf gegen das Glas, der ganze Geschützstand wackelte, und die Schnur schnellte hinaus in die sonnenhelle Luft. Inzwischen setzte sich draußen das Unmögliche fort; das Ding befand sich inzwischen einen halben Kilometer über ihm und war nahezu außer Reichweite.
    Schütze Zwölf-Fünfzehn hatte sechzehn Jahre lang hier gesessen. In dieser Zeit hatte er sich in der kalten, zugigen Vorhölle des ovalen Geschützstands ein kuscheliges Nest geschaffen. Er hatte die Lücken in der Metallpanzerung mit Stoff und später mit Pech verschlossen. Er hatte Decken und Kissen eingeschmuggelt und schließlich sogar den ursprünglichen Metallsitz ausgebaut und ihn mit tiefer Genugtuung auf das drei Kilometer entfernte Groß-Spyre hinuntergeworfen. Dann hatte er den Sitz durch einen bequemen Diwan ersetzt, mit Sonnenblenden Candesces grelle
Strahlen abgeschirmt und seitlich einige Schichten der Panzerung herausgenommen, um Platz für ein Bücherregal und einen Barschrank zu schaffen. Das Einzige, was er nicht angerührt hatte, war der Kolben des Maschinengewehrs.
    Niemand würde es erfahren. Der Stand, eine Metallkapsel hoch über den Wolken, an Kabeln befestigt, die quer über Groß-Spyre gespannt waren, gehörte ihm allein. Früher war in drei Schichten Wache gehalten worden, rund um die Uhr hatten ein Dutzend Augen gleichzeitig das Fahrstuhlkabel zwischen den Habitaträdern von Klein-Spyre und dem verlassenen und einsamen Buridan-Turm beobachtet. Durch Personaleinsparungen und Dienstplanänderungen war die Zahl schließlich auf jeweils einen Mann gedrückt worden: es gab nur noch eine Zwölf-Stunden-Schicht für jede der sechs Kapseln rund um das Kabel. Schütze Zwölf-Fünfzehn zweifelte nicht daran, dass seine Kollegen sich in ihren Stationen ebenfalls behaglich eingerichtet hatten; dass jetzt keiner auf den Notruf reagierte, bedeutete nur, dass sie nicht auf das Objekt achteten, das sie eigentlich bewachen sollten.
    Auch er hatte das nicht getan; wenn sich nicht zufällig ein Sonnenstrahl im Prismenglas der schmiedeeisernen Fahrstuhlkabine gespiegelt hätte, hätte er vielleicht nie - oder erst, wenn er mit den anderen Diensthabenden nach oben gebracht und vor ein Kriegsgericht gestellt worden wäre - bemerkt, dass Buridan wieder zum Leben erwacht war.
    Er klappte das kugelsichere Kanzeldach zurück und wollte wieder nach der ausgefransten Schnur des Notschalters greifen. Sie baumelte keine zehn Zentimeter
vor seinen ausgestreckten Fingern. Als er sich fluchend danach strecken wollte, wäre er fast zu Tode gestürzt. Mit wild pochendem Herzen setzte er sich wieder.
    Was nun? Er könnte ein paar Schüsse auf die anderen Kapseln abgeben, um sie auf sich aufmerksam zu machen - aber dann brachte er womöglich jemanden um. Überhaupt waren Schüsse auf aufwärts fahrende Gondeln nicht vorgesehen, nur auf Kabinen, die am Kabel nach unten glitten.
    Der Schütze wartete unschlüssig, bis die Fahrstuhlkabine noch eine Wolkenschicht durchstieß und verschwand. Wenn er nicht sofort etwas unternahm, war er verloren - und es gab nur eines, was er tun konnte.
    Er packte den zweiten roten Griff und zog daran.
    Im Konstruktionsplan für den Geschützstand befand sich die Schleuderrakete im Sockel des Schützensitzes. Wenn der Schütze verletzt wurde oder die Kapsel zu explodieren drohte, brauchte er nur den Griff zu ziehen, dann katapultierte ihn die Rakete mitsamt dem Sessel an dem langen Kabel geradewegs nach oben ins Hospital von Klein-Spyre. Aber der Originalsitz existierte natürlich nicht mehr.
    Die anderen Schützen hatten gelesen oder vor sich hingedöst und wurden jäh aufgeschreckt, als ein gepolsterter Diwan auf einer Feuersäule in den Himmel schoss und im Grau verschwand. Decken, Bücher und Ginflaschen wirbelten hinter ihm her.
     
    Der Verbindungsoffizier der Tagwache war so überrascht, als Schütze Zwölf-Fünfzehn bei ihr hereinplatzte,
dass sie einen spitzen Schrei ausstieß. Quer über die ganze Leinwand, auf die sie behutsam Farbe aufgetragen hatte, zog sich ein dicker blauer Strich.
    Sie sah die Erscheinung in der Tür böse an. »Was wollen Sie denn hier?«
    »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, stotterte der zitternde Soldat. »Aber Buridan ist wieder zum Leben erwacht.«
    Sie zauderte noch - das Gemälde wäre ruiniert, wenn sie die Farbe nicht auf der Stelle entfernte -, doch dann kam ihr zu Bewusstsein, wie der Mann aussah, der da vor ihr stand. Es war tatsächlich einer von den Wachen.

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