Säule Der Welten: Roman
werden. »Hier entlang, bitte.«
Sie überlegte fieberhaft. Es war Jahre her, aber irgendwann war sie auf einer offenen Galerie auf Rad Sieben einem der ältesten Wachoffiziere begegnet. Sie waren an einem langen baufälligen Mauerabschnitt entlanggegangen und schließlich vor einem zugemauerten Torbogen stehen geblieben. »Wissen Sie, was das ist?«, hatte er sie neckisch gefragt. Als sie den Kopf schüttelte, hatte er gelächelt und gesagt: »Das weiß heute kaum noch jemand. Es ist der Eingang zum Buridan-Anwesen. Es ist noch alles vorhanden - Türme, Speicher, Schlafräume und Waffenkammern -, aber die anderen Nationen haben ringsum so lange angebaut, überbaut und renoviert, dass es keinen Zugang mehr gibt. Das Anwesen liegt wie eine Narbe, man könnte auch sagen, wie eine Schwiele mittendrin.
Jedenfalls war dies einmal der Haupteingang. Früher führte eine geschwungene Freitreppe hinauf, doch die hat man abgerissen und dafür den Hof da unten angelegt. Dies ist jetzt der offizielle Eingang, er ist nur mit dem Staatsschlüssel zu öffnen. Sollten sich jemals Besucher von Buridan melden, dann können sie ihre Identität dadurch beweisen, dass sie imstande sind, die Tür hinter dieser Mauer zu öffnen.«
»Kommen Sie«, sagte der Offizier endlich und führte die Besucher an dem Seil entlang, das zu Rad Sieben
gespannt war. Dabei fragte sie sich, wo sie so schnell einen Trupp Bauarbeiter mit Vorschlaghämmern herbekommen sollte.
Die Zerschlagung der Ziegelmauer dauerte gerade so lange, dass die ersten Minister von Klein-Spyre auf der Bildfläche erscheinen konnten. Venera fluchte leise, als sie die tapsenden Schritte auf der Galerie hörte: fünf Männer und drei Frauen in bunten Seidengewändern und mit todernsten Gesichtern. Sekretäre und Hofschranzen umschwirrten sie wie die Motten das Licht. Unten im Hof wurde die Schar von neugierigen Bürgern immer größer.
»Hoffentlich geht das gut«, raunte sie Diamandis zu.
Der rückte die Maske zurecht, die seine Gesichtszüge verbarg. »Die haben genauso viel Angst wie wir«, sagte er. »Wer weiß denn schon, ob auf der anderen Seite noch etwas ist?« Er wies mit einem Nicken zum Torbogen hin, wo die Steine immer schneller zu Boden purzelten.
»Lady Thrace-Guiles!« Einer der Minister rauschte nach vorne und lüftete dabei vorsichtig seine seidenen Röcke, um sie vor dem Steinstaub zu schützen. Er hatte ein Doppelkinn und schütteres Haar, rote Äderchen auf der Nase und Leberflecken auf den plumpen Händen. »Sie sind Ihrer Ur-ur-urgroßmutter Lady Bertitia wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagte er gönnerhaft. »Ihr Porträt hängt in meinem Vorzimmer.«
Venera sah ihn herablassend an: »Und Sie sind …?«
»Aldous Aday, kommissarischer Leiter des Ausschusses für öffentliche Bauten und die Infrastruktur von Klein-Spyre«, stellte er sich vor. »Gewählt vom
Oberhaus der Großen Familien - einer Körperschaft, in der all die Jahre über ein Platz für einen Vertreter Ihrer Nation freigehalten wurde, für die Dauer der Abwesenheit mit Samt verhüllt. Ich muss gestehen, dies ist ein aufregender und, wenn ich das sagen darf, auch überraschender Tag in der Geschichte von Klein-Spyre …«
»Ich möchte mich erst davon überzeugen, dass unser Stammsitz noch intakt ist«, sagte sie, dann wandte sie sich an Diamandis. »Flance, das Loch ist jetzt groß genug, Sie können sich hindurchzwängen. Bitte gehen Sie voraus, und melden Sie mir, ob unsere Tür unversehrt ist.« Diamandis verneigte sich und drängte sich an den Arbeitern vorbei.
Er und Venera trugen Kleidungsstücke, die sie in Wachspapier eingeschlagen in den Schränken des Buridan-Turms gefunden hatten. Die Mode war längst darüber hinweggegangen, dennoch waren sie praktischer als die Kreationen, die Spyres derzeitige Generation bevorzugte. Venera trug schwarze Hosen aus weichem Leder und eine schwarze Jacke über einem Mieder mit silbernen Gravuren und Applikationen. In einem schlichten Gürtel steckten zwei Pistolen. Um ihre Stirn lag ein Silberreif, den sie in einem Schlafzimmer der oberen Stockwerke entdeckt hatten. Diamandis’ Aufzug war ganz ähnlich, nur war bei ihm das Leder von einem satten Dunkelgrün.
»Es ist uns eine große Ehre, Ihre Nation nach so vielen Jahren wiederzusehen«, fuhr Aday fort. Wenn er ihrer Identität misstraute, so zeigte er das nicht. Venera biss die Zähne zusammen und plauderte eine Weile mit ihm, stets bemüht, ihm ihr Profil zuzuwenden, damit
er und
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