Säule Der Welten: Roman
kleinen windgeschützten Nischen hinter Mauervorsprüngen in flachen Zügen atmend, folgte sie Diamandis um die endlose Wölbung des Buridan-Turms herum.
Endlich stand sie zitternd auf einem schmalen Steinsims. Die Tür vor ihr war mit Eisen beschlagen, fast fünf Meter hoch und von zitterndem Renn-Efeu umrahmt. Ringsum ragten die Mündungen rostiger Maschinengewehre aus Schlitzen in der Mauer. Der Bogen wurde von einem Wappen in antikem Stil gekrönt. Venera starrte es verblüfft an und vergaß für einen Moment ihre Angst. Dieses Zeichen hatte sie schon einmal gesehen.
»Ich kann nicht mehr auf dem gleichen Weg zurück. Es muss eine andere Möglichkeit geben.«
Diamandis setzte sich mit dem Rücken zur Tür und bedeutete ihr, das Gleiche zu tun. Die Turbulenzen waren hier gerade so weit abgemildert, dass sie atmen
konnte. Sie lehnte sich an seine Schulter. »Garth, was hast du uns angetan?«
Er brauchte selbst eine Weile, um wieder zu Atem zu kommen. Dann deutete er mit dem Daumen auf die Tür. »Seit Generationen werden Teleskope auf dieses Bauwerk gerichtet, weil alle Welt davon träumt, ins Innere zu kommen. Man hat geheime Expeditionen ausgerüstet, aber nie hat jemand die Route genommen, über die wir eben gekommen sind. Man ging davon aus, dass dieser Weg nicht gangbar ist. Nein …« Er deutete auf den Himmel. »Alle klettern am Fahrstuhlkabel herunter, das den Turm mit Klein-Spyre verbindet. Und jedes Mal werden sie von Spyres Wachposten entdeckt und abgeschossen.«
»Warum?«
»Weil die Nation Buridan nicht amtlich für tot erklärt wurde. Es sollen angeblich noch irgendwo Erben leben. Auch Buridans Erzeugnisse gibt es noch, sie sind auf landwirtschaftlichen Anwesen überall um Spyre verteilt. Niemand ist gesetzlich befugt, sie zu verkaufen, solange über das Schicksal der Nation nicht endgültig entschieden wurde. Aber die Besitzrechte, die Urkunden, die Eigentums- und Herkunftsnachweise …« Er schlug mit der Faust auf das Eisen. »All das ist hier drin.«
Allmählich wurde die Neugier stärker als die Angst. Sie schaute zur Tür empor. »Sollen wir anklopfen?«
»Die Legende sagt, die letzten Angehörigen der Nation lebten noch und sind in diesem Turm gefangen. Das ist natürlich Unsinn, aber es ist eine nützliche Fiktion.«
Allmählich dämmerte ihr, was er vorhatte. »Du willst dich an die Legende hängen.«
»Noch viel besser. Ich gedenke zu beweisen, dass sie wahr ist.«
Sie stand auf und drückte gegen die Tür. Die gab nicht nach. Venera sah sich nach einem Schloss um und hatte es wenig später auch gefunden - einen quadratischen Metallblock, der in den Stein des Bogens eingelassen war. »Du warst schon öfter hier. Warum bist du nicht hineingegangen?«
»Weil ich nicht konnte. Ich hatte den Schlüssel nicht, und die Fenster sind zu klein.«
Sie sah ihn empört an. »Aber wieso …?«
Er stand auf und lächelte geheimnisvoll. »Weil ich den Schlüssel jetzt habe. Du hast ihn mir gebracht.«
»Ich …?«
Diamandis kramte in seiner Jacke, schob sich etwas auf den Finger und hielt dann die Hand in Candesces Licht.
Eines der Schmuckstücke, die Venera aus Anetenes Schatz an sich genommen hatte, war ein Siegelring gewesen. Sie hatte ihn in demselben Kästchen gefunden wie den Schlüssel zu Candesce. Er gehörte zu den Stücken, die ihr Diamandis nach ihrer Ankunft hier entwendet hatte.
»Der gehört mir!«
Ihr Ton überraschte ihn, doch dann zuckte er die Achseln. »Wie du meinst, Lady. Ich habe lange und gründlich darüber nachgedacht, ob ich das Spiel selbst spielen soll, aber dafür bin ich jetzt zu alt. Und außerdem hast du Recht. Es ist dein Ring.« Er zog ihn vom Finger und reichte ihn ihr.
Das Siegel zeigte ein Fabelwesen aus uralter Zeit, das man Pferd nannte. Es war auf Schwerkraft angewiesen,
und deshalb lebten solche Tiere in Virga nicht mehr - oder waren am Ende solche Pferde das Produkt, mit dem Buridan gehandelt hatte? Venera nahm den schweren Ring und hielt ihn stirnrunzelnd in die Höhe. Dann ging sie an den Schließmechanismus und schob den Ring in die passende Aussparung.
Mit melancholischem Knirschen schwang Buridans großes Tor auf.
8
Schütze Zwölf-Fünfzehn legte die Finger um den staubigen Griff des Notsignals und zog daran, so fest er konnte. Der rote Bügel riss mit lautem Knacken ab und blieb ihm in der Hand.
Der Schütze fluchte und richtete sich halb auf, um das Ende der Schnur zu fassen, die jetzt aus einem Loch in seinem Kanzeldach ragte.
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