Säule Der Welten: Roman
Lücken?«
»Vertrau mir.« Er machte sich mit forschen Schritten auf den Weg.
Was blieb ihr übrig, als ihm zu folgen?
Das Rohr bewegte sich im Takt mit dem Schwanken der Stahlträger. Das war unangenehm, aber für jemanden, der sich während einer Schlacht auf einem Kriegsschiff aufgehalten hatte, bei hoher und niedriger Schwerkraft in ganz Virga unterwegs gewesen und sogar in Candesces Geheimnisse eingedrungen war, nicht weiter beängstigend. Jedenfalls redete sich Venera das so lange ein, bis ihre Hand zum zehnten Mal wie von selbst nach außen zuckte und krampfhaft eine Rostkruste
oder einen gerissenen Ventilrand umfasste. Rhythmische Schmerzstöße rasten durch ihre fest geschlossenen Kiefer. Ein alter Zorn, aus Hilflosigkeit geboren, bemächtigte sich ihrer.
Die ersten Lücken waren klein und befanden sich glücklicherweise über ihr. Die Decke öffnete sich so weit, dass sie sehen konnte, wo sie war - um dann den Kopf einzuziehen und schaudernd weiterzukriechen.
Doch dann kamen sie an eine Stelle, wo das Rohr auf einer Länge von fast zwanzig Metern einfach aufhörte. Oben und an den Seiten verliefen noch wie zum Andenken schmale Streifen, aber der Boden war nicht mehr da. »Was jetzt?«
Diamandis streckte den Arm nach oben und ergriff ein Kabel, das sie bisher nicht bemerkt hatte. Es war blank und dick und nicht nur an dieser Stelle, sondern auch irgendwo im Innern der schwarzen Höhle verankert, wo das Rohr wieder anfing. Nahe dem Befestigungspunkt wurde es von einer riesigen Feder zusammengehalten, so dass es sich mit den Bewegungen der Träger dehnen und nachgeben konnte.
»Hast du das gemacht?«
Er nickte; sie war beeindruckt und sprach das auch aus. Diamandis seufzte. »Seit ich kein Publikum mehr habe, vor dem ich prahlen kann, vollbringe ich ständig große Taten«, sagte er. »In all den Jahren, in denen ich die Damenwelt zu beeindrucken suchte, hatte ich nichts dergleichen aufzuweisen - und nun wird keine von meinen Verehrerinnen jemals erfahren, wie mutig ich war.«
»Wie sollen wir denn nun …? Ach so.« Trotz ihrer hämmernden Kopfschmerzen musste sie lachen. Was
sie da sah, war eine Seilbrücke; Diamandis wollte Rollen einklinken und über die Lücke hinweggleiten. Nun ja, zumindest bildete der große Träger zu einer Seite hin eine Wand und bot auch nach oben hin ein Stück weit Schutz. Der Wind war hier nicht ganz so stark.
»Du musst schnell sein!« Diamandis setzte eine Flaschenzughalterung auf das Kabel. »Bei diesem Wind kannst du nicht atmen. Wenn du in der Mitte hängen bleibst, verlierst du das Bewusstsein.«
»Na, großartig.« Aber er schnallte sie gut fest, und wer schwerelos in einem Luftozean lebte, hatte keine Angst zu fallen. Als es so weit war, schloss sie einfach die Augen und stieß sich mit einem kräftigen Fußtritt in den weißen Strom hinein.
Sechsmal mussten sie das Verfahren wiederholen. Diamandis, der endlich jemanden gefunden hatte, dem er sein Geheimnis anvertrauen konnte, erzählte voller Begeisterung, wie er mit einem starken Bogen über jede Lücke eine Leine geschossen hatte, in der Hoffnung, sie würde im tiefen Rost auf der anderen Seite so viel Halt finden, dass er sich einmal hinüberhangeln konnte. Nachdem dickere Leinen nachgezogen worden waren, konnte man mühelos hin und her gelangen.
So näherten sie sich, abwechselnd gehend und gleitend, dem schwarzen Turm.
An manchen Stellen ragten seine Wände senkrecht in den Abgrund. Anderswo hafteten ihnen da, wo früher Gehsteige und Nebengebäude gewesen waren, noch Reste des Bodens an. An einer solchen Stelle kletterten sie aus dem Rohr; hier schoben sich Kies und Platten wie eine gespreizte Hand zehn Meter weit an der Turmflanke hinauf. Diamandis hatte an dieser
Wand weitere Kabel befestigt, die zu einem großen dunklen Schatten hinter der Wölbung führten. »Der Eingang!« Gegen den Wind ankämpfend, lief er zur nächsten Leine hinüber.
Die Seilbrücken im Rohr hatten Venera den trügerischen Eindruck vermittelt, sie wäre auf alles gefasst. Nun hing sie auf einmal mit beiden Händen an einem Kabel - dass sie auch eingeklinkt war, war nur ein schwacher Trost - und tastete sich mit den Füßen blind an einer schroffen Wand entlang über einen endlosen Abgrund, und das auch noch bei vollem Tageslicht.
Einen solchen Zugang konnte nur ein Mann bauen, der nichts zu verlieren hatte. Sie verstand ihn, denn sie hatte das Gefühl, in der gleichen Lage zu sein. Mit zusammengebissenen Zähnen, in
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