Säule Der Welten: Roman
fallen uns ihre Aufzeichnungen in die Hände. Und natürlich können wir feststellen, was sie eigentlich gerade treiben. Wenn wir wollten, könnten wir auch den Turm sprengen. Und es ist machbar «, fuhr sie fort. »Ich gebe zu, dass ich bis gestern Abend selbst ziemlich wenig Hoffnung hatte. Wir hatten alle möglichen Pläne durchgesprochen, von heimlichen Kletterpartien über die Mauern bis zum Abseilen von Klein-Spyre aus. Alle unsere
Szenarien endeten damit, dass wir entweder auf dem Weg hinein oder auf dem Weg hinaus von Maschinengewehren beschossen würden. Dann hatte ich ein langes Gespräch mit Prinzessin Corinne.«
Corinne nickte heftig; ihr Haar folgte jeder Kopfbewegung mit einem Sekundenbruchteil Verspätung. »Wir können in das Grey-Hospital eindringen«, krähte sie. »Und wir können es wohlbehalten wieder verlassen.«
Wieder erhob sich ein Chor des Protests, und wieder hob Venera die Hand. »Ich könnte es Ihnen erklären«, sagte sie, »aber wenn ich es Ihnen zeige , ist es vielleicht überzeugender. Kommen Sie.« Und sie ging auf die Türen zu.
In Buridans untersten Rohren war das Tosen des Luftkatarakts mehr zu spüren als zu hören. Als Bryces Leute kamen, hatten sie Leitern heruntergelassen und die Windorgel weggeschnitten, die bei Buridans Zerstörung zufällig entstanden war und eine so schrille Musik machte. Die korrodierte Metallfläche glänzte feucht, und als Venera von der Leiter trat, rutschte sie aus und wäre fast gestürzt. Sie schaute auffordernd zu dem Ring von Gesichtern sechs Meter über sich empor.
»Nun kommen Sie schon«, sagte sie. »Wenn ich mich hier herunterwage, dann können Sie es auch.«
Thinblood ignorierte die Leiter, er ließ sich einfach fallen und landete mit einem satten Aufprall neben ihr. Der Boden schwankte bedenklich, und es regnete Rostflocken. »Sie brauchen die Leiter nicht zu schonen, sie soll das Rohr schützen«, sagte Venera laut. Thinblood machte ein betretenes Gesicht; die anderen kletterten brav über die Sprossen herunter.
Sie waren durch den senkrechten Teil des Rohrs gestiegen und standen nun da, wo es in die Horizontale abknickte. Dieser Tunnel war etwa drei Meter breit, und niemand wusste mehr, wozu er ursprünglich gedient haben mochte - Venera vermutete, zur Entsorgung von Pferdemist. Jetzt endete er jedenfalls in fünf bis sechs Metern Entfernung. Im Schein der Abendsonne huschten harte Schatten über das gezackt abgerissene Metall. Von dieser Stelle ging das Tosen aus.
»Kommen Sie.« Venera ging ohne Zögern bis auf einen Meter an die Öffnung heran, ließ sich dann auf ein Knie nieder und deutete mit der Hand nach vorn. »Da! Sacrus!«
Das Rauschen war so laut, dass die anderen sie kaum verstanden haben konnten; aber das spielte keine Rolle. Die Handbewegung genügte.
Das Rohr ragte zwölf bis fünfzehn Meter weit in den Luftstrom unter Spyres Rumpfwölbung hinein. Zum Glück zeigte die Öffnung nicht in den Rotationswind, dennoch zerrte der Sog unbarmherzig an Venera, und die Luft war so dünn, dass sie jetzt schon zu keuchen anfing. Das Rohr hing so weit nach unten, dass man mehrere Kilometer von Spyres Rumpf sehen konnte. Weit draußen, nahe dem kopfstehenden Horizont der kleinen Welt, ragte ein Bündel von ganz ähnlichen - aber intakten - Rohren in den Luftstrom. Zwischen sie schmiegte sich eine verglaste Maschinengewehrkanzel ähnlich der, die Venera kurz nach ihrer Ankunft unter Garth Diamandis’ Hütte entdeckt hatte.
»Das ist die Unterseite des Grey-Hospitals«, brüllte sie dem bunten Haufen von Generälen und Revolutionären zu, die sich hinter ihr drängten. Jemand legte die
Hand ans Ohr und sah sie fragend an. »Hospital! Ho! Spi! Tal!« Sie wies mit spitzem Finger auf die fernen Rohre. Der Fragesteller lächelte und nickte.
Venera wich vorsichtig zurück, und die anderen schoben sich an ihr vorbei. An der Biegung des Rohres, wo das Atmen etwas leichter fiel und Lärm und Vibration nicht ganz so betäubend waren, stemmte sie sich mit dem Gesäß gegen die Wand und bohrte die Füße in die Rostschicht am Boden. »Wir haben Teleskope heruntergeschafft und uns den Maschinengewehrstand angesehen. Er ist verlassen wie die meisten Stellungen am Rumpf. Der Eingang wurde wahrscheinlich zugemauert und vermutlich vergessen. Seit mehreren Hundert Jahren hat niemand mehr versucht, Spyre von außen zu überfallen.«
Die brummende Stimme des Generals von Carasthant war kaum zu hören. »Sie wollen auf diesem Weg
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