Säule Der Welten: Roman
eindringen? Wie soll das gehen? Sollen die Leute von der Welt springen und im Flug die Rohre packen?«
Venera nickte. Als alle sie verständnislos anstarrten, wandte sie sich seufzend an Prinzessin Corinne. »Zeig du es ihnen«, bat sie.
Corinne trug einen sperrigen Rucksack auf dem Rücken. Jetzt streifte sie ihn ab und ließ ihn in den Rost fallen. »Damit«, sagte sie mit einer dramatischen Geste, »erreichen wir Sacrus.«
»Man nennt es einen Fallschirm .«
Venera musste sich auf ihren Unterkiefer konzentrieren. Sie hatte das Gesicht in der ausladenden Schulter ihres Ledermantels vergraben; mit den Händen umklammerte sie das Seil, das unter ihren Fingern zitterte
und sich verdrehte. Im Rasseln und Tosen eines Sturms, der mit einer Geschwindigkeit von sechshundert Stundenkilometern vorbeiraste, durfte man sich durch nichts ablenken lassen, man durfte nicht einmal denken.
Zwischen den Zähnen hatte sie ein Mundstück, das die Flosser entworfen hatten. Von dort führte ein Gummischlauch zu einer Metallflasche die, wie ihr Corinne erklärt hatte, zusammengepresste Luft in großen Mengen enthielt. Genaugenommen handelte es sich um den Luftbestandteil, den die Techniker der Krähe »Sauerstoff« genannt hatten; Venera war es beim ersten Atemzug schwindlig geworden.
Hin und wieder drehte der Wind sie um die eigene Achse oder riss ihr den Kopf zur Seite, und dann sah sie, wo sie war: sie hing, in Leder gepackt, das Gesicht von Schutzbrille und Maske geschützt, an einem dünnen Seil, das in wenigen Zentimetern Abstand an Spyres Unterseite entlangführte.
Sie musste nur darauf achten, den Körper ganz gerade zu halten und das Mundstück nicht zu verlieren. Venera war mit einer Leine verbunden, die ziemlich schnell vom Rand des Luftkatarakts aus abgelassen wurde. Vor ihr hatten bereits zehn Soldaten die Reise gemacht, es musste also möglich sein.
Es war Nacht, aber das Licht ferner Städte und noch fernerer Sonnen versilberte die dünnen Wolken, die wie neugierige Fische auf Spyre zuschwammen und es vorsichtig anstupsten. Wenn sie durch die schnelle Rotation weggestoßen wurden, zuckten sie zurück, bildeten Spiralen und umtanzten zaghaft den großen Zylinder, als suchten sie nach einem Eingang. Dazwischen
streiften schwarze Punkte - Schwärme von Piranfalken und Haien - umher, und dahinter waren große schwarze Formationen zu erkennen, der Stacheldraht und die Blockhäuser der Wachposten.
Für Venera war es nichts Besonderes, zwischen den Wolken zu hängen, ohne etwas über oder unter sich zu haben. Wenn sie fiel, brauchte sie nur ihren Fallschirm zu öffnen, um lange, bevor sie auf dem Stacheldraht aufkam, abgebremst zu werden. Nicht die Angst vor einem Sturz war also der Grund für ihr Herzklopfen, sondern der heftige Gegenwind, der ihr den Atem vom Munde zu reißen drohte.
Ein Zittern ging durch das Seil, und sie umklammerte es krampfhaft. Dann spürte sie, wie eine Hand ihren Knöchel umfasste.
Die Soldaten zogen sie durch einen Vorhang aus Renn-Efeu in eine enge Geschützstellung. Der Raum war trocken und leer, und von einer Sauberkeit, die irgendwie zu Sacrus’ pedantischer Detailbesessenheit zu passen schien. Bryce war bereits da, und er riss Venera kurzerhand den Luftschlauch aus dem Mund. - Oder versuchte es; sie hielt das Mundstück hartnäckig mit den Zähnen fest und starrte ihn aufgebracht an, bevor sie nachgab und den Mund öffnete. Er warf ihr einen strafenden Blick zu, dann machte er den Schlauch und ihren ungeöffneten Fallschirm am Seil fest und schob beides durch den Renn-Efeu wieder hinaus, damit es für die nächste Fahrt nach Buridan zurückgeholt werden konnte.
Zunächst hatte sich die Idee verrückt angehört, aber Prinzessin Corinne hatte nur die Achseln gezuckt und gesagt: »Wir machen so etwas andauernd.« Sie war natürlich
aus Flosse, und das erklärte vieles. Diese Mini-Nation hatte ihren Sitz auf einem von Spyres gigantischen Querrudern, einem Flügel von mehreren Hundert Metern Länge, der geradewegs in den Luftstrom hineinragte. Ursprünglich eine Kolonie, gegründet von entsprungenen Verbrechern, hatte sich Flosse über die Jahrhunderte von einem kalten, dunklen Kellerkomplex zu einem hellen und unabhängigen - wenn auch absonderlichen - Reich gemausert. Die Flosser fühlten sich nicht wirklich als Bürger von Spyre. Sie waren Bewohner der Lüfte.
Im Lauf der Jahre hatten sie in den riesigen Metallflügel Hunderte von Fenstern und viele Luken und Winden eingebaut. Sie
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