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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Agoraphobie?«
    »Nein, nichts«, sagte Gabney. »Ihr Streßlevel war niedriger als je zuvor. Sie machte wunderschöne Fortschritte.«
    Ich wandte mich an Ursula. Sie sah immer noch zu dem Haus hinüber, schüttelte aber den Kopf. »Nein,« sagte sie, nichts.«
    »Weshalb diese Art von Fragen, Dr. Delaware?« fragte Gabney. »Sie glauben doch bestimmt nicht, daß es Selbstmord war.« Sein Gesicht kam meinem näher. Eines seiner Augen war von einem blasseren Blau als das andere; beide waren klar und unbeweglich, weniger streitbar als neugierig.
    »Ich versuche es mir nur irgendwie zu erklären.«
    Er legte eine Hand auf meine Schulter. »Ich verstehe, das ist ganz natürlich. Aber ich fürchte, die traurige Erklärung wird sein, daß sie ihren Fortschritt überschätzt hat und vom Behandlungsplan abgewichen ist. Die Erklärung wird sein, daß wir es uns nie werden erklären können.« Er seufzte und wischte sich wieder über die Stirn, obgleich sie trocken war. »Wer weiß besser als wir Therapeuten, daß Menschen ihre ärgerliche Angewohnheit der Unberechenbarkeit nicht ablegen? Diejenigen von uns, die damit nicht umgehen können, sollten Physik studieren.«
    Der Kopf seiner Frau vollführte eine abrupte Vierteldrehung.
    »Nicht, daß ich es ihr vorwerfe«, versuchte er zu beschwichtigen, »natürlich nicht. Sie war eine liebe Frau, sie hat es gut gemeint. Hat mehr gelitten, als irgendein Mensch leiden sollte. Es ist einfach eines dieser unglücklichen Vorkommnisse.« Achselzucken. »Wenn man viele Jahre lang in der Praxis gestanden hat, lernt man es, sich mit dem Tragischen abzufinden. Man lernt es wirklich!« Er griff nach Ursulas Arm. Sie erlaubte es ihm, sie für einen Augenblick zu berühren, wich dann zurück und ging rasch die Kalksteintreppe hinauf. Ihre hohen Absätze klapperten, und ihre langen Beine wirkten zu dekorativ für eine solche Geschwindigkeit. Sie sah sexy und unbeholfen zugleich aus. An der Tür legte sie die Hände auf die Bildtafeln, die mich an die Canterbury Tales erinnerten und stand da, als besäße das Holz Heilkräfte.
    »Sie ist weich«, flüsterte Gabney sehr leise, »macht sich zuviel Sorgen.«
    »Ich wußte nicht, daß das ein Fehler ist.«
    Er lächelte. »Warten Sie noch ein paar Jahre!« Dann: »Also, übernehmen Sie die Verantwortung für das Wohlbefinden dieser Familie?«
    »Nur Melissas.«
    Er nickte. »Sie ist in der Tat sehr empfindlich. Bitte zögern Sie nicht, sich mit uns zu beraten, wenn es irgend etwas gibt, das wir tun können.«
    »Wäre es möglich, Mrs. Ramps Karte mal anzusehen?«
    »Ihre Karte? Ich nehme an, ja, aber wieso?«
    »Dieselbe Antwort wie zuvor, schätze ich. Versuche eine Erklärung zu finden.«
    Professorales Lächeln. »Ihre Karte wird Ihnen dabei nicht helfen. Es gibt nichts Außergewöhnliches darauf. Was heißen soll, daß wir die typischen anekdotischen Fallstricke vermeiden, wie zwanghaft detaillierte Beschreibungen, jedes Zucken und Blinzeln des Patienten, diese hübschen ödipalen Erinnerungen und Traumsequenzen, die Drehbuchschreiber so lieben. Meine Forschungsarbeit hat erwiesen, daß das wenig mit therapeutischen Ergebnissen zu tun hat. Typisch ist der Doktor, der mitschreibt, um das Gefühl zu haben, daß er sich nützlich macht, der sich dann aber niemals die Mühe macht, das Geschriebene noch mal zu lesen, und wenn er’s tut, ist nichts davon zu gebrauchen. Also haben wir eine Aufzeichnungsmethode entwickelt, die in hohem Maße objektiv ist: die auf dem Verhalten basierende Symptomologie, objektiv definierte Zielsetzungen.«
    »Wie sieht’s mit Aufzeichnungen von Gruppensitzungen aus?«
    »Die heben wir nicht auf. Denn wir konzipieren die Gruppe nicht als Therapie, - unstrukturierte Gruppensitzungen haben einen sehr geringen direkten Behandlungswert. Zwei Patienten mit identischen Symptomen können auf völlig verschiedenen Wegen zu ihrem Krankheitsbild gelangt sein. Jeder hat ein einmaliges Muster eines fehlerhaften Lernens entwickelt. Sobald der Patient sich verändert hat, kann es für ihn angemessen sein, mit anderen zu sprechen, die einen Fortschritt erlebt haben. Wenn auch aus keinem anderen Grund als dem einer sozialen Verstärkung.«
    »Soziale Kontakte als Belohnung für gutes Benehmen?«
    »Genau, aber wir halten die Diskussion auf einem positiven Gleis. Wir machen keine Notizen oder etwas anderes, wodurch es zu klinisch aussähe.«
    Ich erinnerte mich an das, was Ursula gesagt hatte: Gina hatte in der Gruppe über Melissa

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