SÄURE
Augen bewegten sich hin und her, konnten sich auf nichts konzentrieren. Eine Welle der Panik lief ihr über das Gesicht. Sie stieß den Kopf vorwärts, fiel zurück. Schloß die Augen und öffnete sie wieder.
Ich setzte mich hin und nahm ihre Hand. Sie war weich und heiß, befühlte ihre Stirn - warm, aber kein Fieber.
Madeleine schaukelte schneller.
Melissa drückte meine Finger zusammen. »Ich - was - Mama?«
»Sie wird immer noch gesucht, Melissa.«
»Mama!« Tränen, sie schloß die Augen. Madeleine war da mit einem Papiertaschentuch und einem vorwurfsvollen Blick für mich.
Einen Augenblick später schlief Melissa wieder.
Ich wartete, bis ihr Schlummer tiefer wurde, bekam von Madeleine, was ich brauchte, und ging nach unten. Lupe und Rebecca waren unten, saugten Staub und scheuerten die Fußböden. Als ich vorbeikam, wandten sie die Augen ab. Ich verließ das Haus und trat in das rußige Licht, das den Wald grau färbte, der das Haus schützte. Gerade als ich die Tür des Seville öffnete, fuhr ein weißer Saab Turbo röhrend die Straße herauf. Er stoppte abrupt, der Motor verstummte, und beide Gabneys stiegen aus, Ursula an der Fahrerseite.
Sie trug ein elegant geschnittenes grau glänzendes Kostüm und weniger Make-up, als sie in der Klinik getragen hatte. Sie wirkte müde, aber jünger. Jede Haarsträhne lag an ihrem Platz, aber ihrer Frisur fehlte der Glanz. Ihr Mann hatte die Cowboytracht gegen ein Jackett, weißes Hemd und einen grünen Schlips ausgetauscht.
Sie wartete, bis er ihren Arm nahm. Der Unterschied ihrer Größe wirkte fast komisch, aber ihr Gesichtsausdruck war alles andere als lustig. Sie kamen im Gleichschritt auf mich zu.
»Dr. Delaware«, begann Leo Gabney, »wir haben das Polizeidezernat regelmäßig angerufen und gerade die schreckliche Nachricht von Chief Chickering gehört.« Seine freie Hand wischte über seine hochgezogene Braue. »Schrecklich!«
Seine Frau biß sich auf die Lippe. Er tätschelte ihren Arm. »Wie geht es Melissa?« fragte sie sehr zärtlich.
Überrascht von dieser Frage sagte ich: »Sie schläft.«
»Oh?«
»Es scheint im Augenblick ihre hauptsächliche Abwehr zu sein.«
»Nicht ungewöhnlich«, sagte Leo, »protektive Einkapselung. Ich bin sicher, daß Sie wissen, wie wichtig eine Überwachung ist, weil sich daraus bisweilen eine längere Depression entwickeln kann.«
Ich sagte: »Ich werde sie im Auge behalten.«
Ursula fragte: »Hat man ihr irgend etwas gegeben, damit sie schläft?«
»Meines Wissens nicht«, sagte ich.
»Gut«, sagte sie, »es ist am besten, sie bekommt keine Beruhigungsmittel, damit sie…«, sie biß sich wieder auf die Lippe, »Gott, es tut mir so leid! Wirklich, ich - Es ist einfach…« Sie schüttelte den Kopf, preßte die Lippen aufeinander und sah zum Himmel empor. »Was kann man in so einem Augenblick sagen?«
»Grauenvoll«, sagte ihr Mann. »Man kann nur sagen: grauenvoll. Es schmerzt so sehr, Worte können es gar nicht ausdrücken.« Er tätschelte noch etwas. Sie sah an ihm vorbei, zur Fassade des großen Hauses. Ihre Augen schienen auf keinen bestimmten Punkt gerichtet zu sein.
Er wiederholte: »Grauenvoll«, wie ein Professor, der eine Diskussion in Gang zu bringen sucht; dann: »Wer hat eine Erklärung für eine solche Entwicklung?«
Als weder seine Frau noch ich antworteten, begann er von selbst: »Chickering hat von Selbstmord gesprochen, spielt den Amateurpsychologen. Purer Nonsens, und ich hab’s ihm gesagt! Sie hat nie ein Iota Depressivität gezeigt, weder eine maskierte noch eine offene. Im Gegenteil, sie war eine robuste Frau, wenn man bedenkt, was sie durchgemacht hat.« Er hielt wieder ein, machte eine bedeutungsvolle Pause. Irgendwo in den Bäumen ahmte eine Spottdrossel einen Eichelhäher nach. Gabney machte ein unwilliges Gesicht und wandte sich seiner Frau zu. Sie war in Gedanken woanders.
Ich fragte: »Hat sie in der Therapie jemals etwas erwähnt, das erklären würde, weshalb sie zu dem Reservoir hinaufgefahren ist?«
»Nichts«, antwortete Leo, »überhaupt nichts. Schon daß sie allein losfuhr, war eine totale Improvisation. Das ist das Höllische; hätte sie sich an den Behandlungsplan gehalten, wäre nichts von alledem geschehen. Sie ist zuvor immer fügsam gewesen.«
Ursula sagte weiterhin nichts. Sie hatte ihren Arm aus dem Griff ihres Mannes gelöst, ohne daß ich es bemerkte.
Ich fragte: »War sie irgendeinem ungewöhnlichen Streß ausgesetzt, abgesehen von ihrer
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