SÄURE
sagte ich.
»Das ist kein Job, Marlowe, das ist eine Berufung!«
»Haben Sie je etwas gesehen, das sie geschrieben hat?«
»Natürlich! Während der ersten paar Monate, die sie hier war, haben wir überhaupt nicht miteinander geredet, aber als wir erst einmal entdeckt hatten, daß wir dieselbe Muse hatten, haben wir uns mal ein bißchen ausgetauscht.«
»Was hat sie Ihnen gezeigt?«
»Ihre Mappe.«
»Erinnern Sie sich, was sie enthielt?«
Er schlug die Beine übereinander und kratzte eine haarige Wade. »Wie nennen Sie das? Ein Profil von der Person erarbeiten?«
»Richtig«, sagte ich, »was standen für Sachen in ihrer Mappe drin?«
»Ich soll reden, ohne Gegenleistung, hm?« sagte er, aber ohne Groll.
»Ich weiß gar nichts, Richard, deshalb frage ich Sie.«
»Und ich soll jemanden verpfeifen?«
»Nein, Sie sind eine Quelle.«
»Aha.«
»Ihre Mappe.«
»Ich hab’ sie nur durchgeblättert«, sagte er und gähnte wieder, »es waren hauptsächlich Artikel, Zeugs, das sie geschrieben hatte.«
»Artikel worüber?«
Achselzucken. »Ich habe nicht so genau hingeguckt, zuviel Fakten, keine Phantasie.«
»Könnte ich die Mappe vielleicht mal sehen?«
»Wie sollte das denn möglich sein?«
»Mit dem Schlüssel zu ihrem Apartment.«
Er hob die Hand zum Mund empor, die Parodie einer Empörung. »Eindringen in den privaten Raum, Marlowe?«
»Wie war’s, wenn Sie mir über die Schultern sehen, während ich lese?«
»Das stimmt nicht mit den verfassungsmäßigen Bestimmungen überein, Phil.«
»Hören Sie mal zu«, sagte ich, beugte mich vor und gab mir große Mühe, meiner Stimme einen drohenden Tonfall zu geben. »Das ist ernst, sie könnte in Gefahr sein.«
Er öffnete den Mund, und ich wußte, daß er einen Witz reißen wollte. Ich verhinderte es, indem ich eine Hand ausstreckte und sagte: »Ich meine, was ich sage.«
Sein Mund schloß sich und blieb eine Weile zu. Ich starrte ihn unverwandt an, und er rieb sich die Ellbogen und die Knie und sagte: »Sie meinen es ernst.«
»Sehr.«
»Es hat nichts mit Geld zu tun?«
»Mit Geld?«
»Sie hat mir gesagt, sie hätte eine Menge Geld von ihrer Schwester geliehen und noch nie etwas zurückgezahlt, und der Mann ihrer Schwester wäre stocksauer, er ist irgend so ein Finanzmensch.«
»Mr. Robbins ist Anwalt«, sagte ich. »Er und seine Frau machen sich wegen Kathys Schulden Sorgen, aber darum geht es nicht mehr. Sie ist schon zu lange verschwunden, Richard.«
Er rieb sich noch ein bißchen und sagte: »Als Sie mir erzählten, daß Sie für ihre Schwester arbeiten, dachte ich, es hätte etwas damit zu tun, daß sie ihr Geld wiederhaben will.«
»Damit hat es aber nichts zu tun, Richard. Ihre Schwester, ob weiße Dame oder nicht, macht sich Sorgen um sie, und ich mache mir auch Sorgen um sie. Mehr kann ich Ihnen nicht verraten, aber Mr. Sturgis hält diesen Fall für sehr dringend.«
Er band seinen Pferdeschwanz los und schüttelte seine Mähne. Sein Haar war voll und glänzend wie das eines Covergirls und fiel ihm wie ein Fächer über das Gesicht. Ich hörte seinen Nackenwirbel knacken, als er sich vornüber beugte und sein Haar immer noch weiter über sein Gesicht fiel. Als er hochsah, war etwas von dem Haar in seinem Mund, und er kaute darauf herum, während er nachdenklich dreinschaute. »Alles, was Sie wollen, ist, es sich ansehen, he?« fragte er und zog Strähnen von seinen Lippen fort.
»So ist es, Richard. Sie können mir zusehen.«
»Okay«, sagte er, »wieso nicht? Im schlimmsten Fall kriegt sie es heraus und wird sauer, und ich werde sie auffordern, sich eine billigere Wohnung zu suchen.« Er stand auf, streckte sich und schüttelte wieder seine Mähne. Als ich aufstand, sagte er: »Bleiben Sie hier, Phil.«
Wieder ein Gang in die Küche. Er kam gleich zurück, konnte also nicht weit gegangen sein, und brachte einen in orangefarbenes Tuch gebundenen Hefter zurück.
Ich fragte: »Hat sie das bei Ihnen gelassen?«
»Hm. Sie hat vergessen, es sich zurückgeben zu lassen, nachdem sie es mir zur Ansicht geliehen hatte. Als ich es merkte, war sie schon weg, also habe ich es irgendwo hingesteckt, hab’ ja soviel Plunder hier überall, und sie hat nie danach gefragt. Wir haben es beide vergessen. Das heißt wohl, daß es für sie nicht so wichtig ist, was? Das ist mein Argument, falls sie sauer wird.« Er kehrte auf den Hocker zurück, öffnete den Hefter und blätterte darin herum. Klammerte sich noch einen Augenblick an seinem Schatz
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