SÄURE
fest, bevor er ihn hergab, genau wie er es mit der Post getan hatte. »Hier, bitte«, sagte er. »Aber es sind keine scharfen Sachen drin, Phil.«
Ich schlug den Hefter auf. Darin waren etwa vierzig mit schwarzen Blättern gefüllte Plastikhüllen. Die Blätter waren beidseitig mit Zeitungsausschnitten beklebt, die alle Kathy Moriartys Autorennamen trugen. Auf der Innenseite des vorderen Deckels befand sich eine Tasche. Ich steckte die Hand hinein, leer.
Die Artikel waren chronologisch geordnet. Die ersten reichten fünfzehn Jahre zurück und stammten aus dem ›Daily Collegian‹, einer Studentenzeitung der California State University in Fresno; ungefähr zwanzig Artikel, die sich über einen Zeitraum von sieben Jahren erstreckten, waren aus der ›Fresno Bee‹; als nächstes kamen Stücke aus dem Manchester Union Leader‹ und dem ›Boston Globe‹. An den Daten ließ sich ablesen, daß Kathy Moriarty bei jeder der Zeitungen in Neuengland etwa ein Jahr lang gewesen war.
Ich kehrte zum Anfang zurück und sah mir die Inhalte an. Zum größten Teil waren es Artikel von allgemeinem Interesse und ausschließlich Lokalnachrichten: Stadtverordnetenversammlungen und Berichte über einzelne Persönlichkeiten, Feiertagsstories á la ›Das kluge Haustier‹. Eine Tendenz zum Enthüllungsjournalismus entwickelte sich wohl erst allmählich während ihrer Mitarbeit beim ›Globe‹: eine Serie über Wasserverschmutzung im Hafen von Boston und ein Expose über Grausamkeit gegenüber Tieren in einer pharmazeutischen Firma in Worcester, das nicht sehr weit geführt zu haben schien. Die letzte Plastikhülle enthielt eine Besprechung ihres Buches über die Pestizide, ›The Bad Earth‹, im ›Hartford Courant‹, einer kleinen Lokalzeitung. Darin lobte man ihren Enthusiasmus, bemängelte ihre mangelnde Dokumentation.
Ich blätterte um und fand zwischen Rückseite und letztem Blatt mehrere zusammengefaltete Zeitungsartikel. Skidmore betrachtete währenddessen seine Zehen, ohne mich zu beobachten. Ich entfaltete die Artikel und begann zu lesen: fünf Glossen, datiert vom letzten Jahr, aus einer Zeitung mit dem Titel ›The GALA Banner‹ und dem Untertitel ›Monatlicher Nachrichtendienst der Gay and Lesbian Alliance Against Discrimination, Cambridge, Mass.‹. Der Namenszug lautete jetzt Kate Moriarty, Titel: Mitautorin und Herausgeberin.
Diese Seiten waren voller Zorn: Männerherrschaft, AIDS-Pest, der Penis als Waffe. Ein Artikel über die Identität und den Haß auf Frauen. Daran geheftet war ein kleiner Zeitungsausschnitt. Skidmore gähnte: »Bald fertig?« - Ich las den Ausschnitt - wieder aus dem ›Globe‹, drei Jahre alt; kein Namenszug ›Moriarty‹, noch irgendein Verfasser angegeben, nur die Zusammenfassung einer Nachricht - eine jener Zusammenfassungen, wie die Zeitungen sie auf der zweiten Seite bringen.
Ärztin stirbt an Überdosis (Cambridge) Der Tod einer Psychiatriedozentin ist vermutlich auf eine irrtümlich oder absichtlich eingenommene Dosis von Barbituraten zurückzuführen. Der Leichnam von Eileen Wagner, 37, wurde heute früh in ihrer Praxis in der Psychiatrischen Abteilung des Beth Israel Hospitals an der Brookline Avenue aufgefunden. Der Tod muß irgendwann in der Nacht zuvor eingetreten sein. Die Polizei war nicht bereit, Gründe für ihre Schlußfolgerung zu benennen, es hieß lediglich, Dr. Wagner hätte unter persönlichen Problemen gelitten. Die Ärztin war eine Absolventin von Yale und der Medizinischen Fakultät von Yale, hatte ihre Ausbildung als Kinderärztin am Western Pediatric Medical Center in Los Angeles abgeschlossen und als Ärztin für die Weltgesundheitsorganisation im Ausland gearbeitet, bevor sie letztes Jahr nach Harvard kam, um Kinder und Jugendlichenpsychiatrie zu studieren.
Ich sah zu Skidmore hinüber. Seine Augen waren geschlossen. Ich faltete den Artikel, steckte ihn ein, schloß den Hefter und sagte: »Danke, Richard. Wie wär’s, wenn Sie mir jetzt mal ihr Apartment zeigen würden?«
Seine Augen öffneten sich.
»Nur um sicherzugehen«, sagte ich.
»Sicherzugehen weshalb?«
»Daß sie nicht da ist, verletzt oder was Schlimmeres.«
»Sie ist bestimmt nicht da«, sagte er, mit erfrischend echter Angst in der Stimme, »unmöglich, Marlowe.«
»Wieso sind Sie sich dessen so sicher?«
»Ich habe sie vor einem Monat wegfahren sehen, in ihrem weißen Datsun. Sie können sich die Kennzeichen besorgen, an alle Polizeidienststellen weitergeben,
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