Safa: Die Rettung der kleinen Wüstenblume
Sonne entgegenlaufen.
Gemächlich joggte ich los, vorbei an den weißen Möwen, die in der Bucht nach Essensresten, Krabben und Muscheln fischten, vorbei an kleinen Müllhaufen, die das Meer angespült hatte und aus denen nun streunende Hunde erschrocken hervorsprangen. Einige Fischer hatten bereits ihre Boote aus dem Wasser gezogen, die sie nun keuchend säuberten. Etwas weiter vorne, an einem schöneren Stück des Strandes, spielten einige ausgelassene Jungen Fußball im Sand.
Ich drehte die Volume-Taste meines iPods auf volle Lautstärke und beschleunigte mein Tempo. John Lee Hooker erklang mit dem Van-Morrison-Song »Gloria«. »And her name is GLORIAAA , Gloria, Gloria.« Ich liebte dieses Lied. Inbrünstig sang ich mit, während ich die Beine im Takt fest in den weichen, sandigen Boden drückte. Bestimmt sah mir der ein oder andere Junge vom Strand aus entgeistert nach, eine singende Läuferin war hier sicher nicht gerade üblich, aber das war mir völlig egal. Wie immer beim Laufen konnte ich endlich abschalten, mich auf die Musik, mein Tempo, meinen Atem konzentrieren – und Vergangenheit und Gegenwart hinter mir lassen.
Nach einiger Zeit erreichte ich eine besonders idyllische Bucht. Ich beschloss, hier kurz Rast einzulegen und mich auf das buntbemalte Fischerboot zu setzen, das einsam und verlassen im Sand lag. Die untergehende Sonne umschmeichelte mit ihren letzten kräftigen Strahlen mein Gesicht, die abendlich wilden Wellen tosten über die Meeresoberfläche und brachen sich als schäumende Gischt am Strand. Die Schönheit meiner Heimat Afrika ließ mich für einige Augenblicke das Elend vergessen, das dieses Land in sich barg.
Plötzlich tauchte eine hünenhafte Gestalt am Strand auf, die sich schnell auf mich zubewegte und schließlich genau vor mir stehen blieb. Ein junger blonder, muskulöser Mann stand in Laufmontur vor mir.
»He, Mann, du stehst mir in der Sonne!«, scherzte ich.
»Entschuldigen Sie«, erwiderte der Läufer in gebrochenem Englisch. »Ich wollte nur nachsehen, ob mit Ihnen alles okay ist. Ich dachte, Ihnen ist vielleicht der Kreislauf gekippt, weil Sie hier so alleine sitzen.«
Ich wusste nicht, ob es sich nun um eine banale Anmache oder die Wahrheit handelte, dennoch packte mich das schlechte Gewissen ob meiner schroffen Begrüßung. »Sorry«, entschuldigte ich mich daher schnell. »Das sollte nur ein Spaß sein. Es geht mir gut, danke. Ich habe nur diesen wundervollen Ausblick genossen.«
Erleichtert setzte sich meine neue Bekanntschaft neben mich auf das Boot und streckte mir eine große, kräftige Hand entgegen: »Hi, ich bin Jochen. Ich komme aus Hamburg.«
Erst jetzt, da Jochen aus der Sonne getreten war, konnte ich sein Gesicht richtig erkennen. Mit seinen kantigen Zügen, den großen, dunklen Augen und dem dichten blonden Haar, das ihm lässig in die Stirn fiel, war er ein durchaus attraktiver Mann.
»Sie kommen mir irgendwie bekannt vor«, sagte er, während er mein Gesicht ebenso interessiert musterte wie ich seines. »Ist es möglich, dass wir uns schon mal begegnet sind? Woher kommen Sie denn?«, fragte er neugierig.
»Na ja, wenn man es genau nimmt, aus demselben Universum wie Sie«, antwortete ich schlagfertig, »wenn auch aus einer anderen Galaxie.«
Er musste lachen. »Nein, ich glaube, ich kenne Sie aus dem Fernsehen oder so. Sind Sie Schauspielerin?«
Ich schüttelte den Kopf und verschränkte verlegen die Arme vor der Brust. »Nein, ich war mal Model. Heute bin ich Autorin und …« Ich überlegte, wie ich dem jungen Deutschen erklären konnte, was ich machte, ohne ihm meine gesamte Lebensgeschichte erzählen zu müssen.
»Sie sind doch die Wüstenblume!«, kam mir Jochen zuvor. »Das Model aus Afrika, das …« Nun blieben auch ihm die Worte im Hals stecken. Er wusste nun anscheinend genau, wer ich war, und offenbar auch, was mir in meiner Kindheit widerfahren war. Das Model, das in seiner Kindheit beschnitten wurde, dem mit einer Rasierklinge die Weiblichkeit genommen wurde, hatte er vielleicht sagen wollen.
»Das seit Jahren gegen weibliche Genitalverstümmelung kämpft«, vollendete ich seinen Satz, um ihn und zugleich auch mich aus der peinlichen Situation zu befreien.
Jochen blickte mir sanft in die Augen, als wolle er mir den Schmerz von der Seele küssen. Dann lächelte er verlegen und hauchte bloß: »Waris. Du bist Waris Dirie.«
Ich fühlte mich geschmeichelt, ein deutscher Jogger am Strand von Dschibuti kannte mich und meine
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