Sag, dass du eine von ihnen bist
könnte, sonst verlöre er noch die Beherrschung. Also dachte er auch nicht weiter über die Leuchtröhren nach.
Als Nächstes fielen ihm die beiden Fernseher im Bus auf, die unmittelbar widerstreitende Gefühle in ihm weckten. Zum Glück waren die Apparate nicht an. Die wenigen Male, bei denen er ferngesehen hatte, war er im Haus anderer Leute gewesen, einmal während der Fußballweltmeisterschaft 1994 und dann 1996, während der Sommerolympiade, bei der sein Land die Goldmedaille gewonnen hatte. 1994 war er zehn Jahre alt
gewesen und hatte zusammen mit seinem Onkel und seinem älteren Bruder Yusuf ferngesehen. Der Apparat lief über einen Generator, da selbst in solchen Momenten nationaler Hochstimmung auf die NEPA kein Verlass war. Ihr Gastgeber erlaubte ihnen, sich das Spiel anzusehen, für die Halbzeitpause aber wurde das Gerät wegen der möglicherweise anstößigen Reklame abgestellt. Bei der Olympiade zwei Jahre später waren Geräteturnen und Leichtathletik der Frauen natürlich tabu. Dass es im Bus Fernsehgeräte gab, beunruhigte Jubril und ließ sein Herz schneller schlagen, denn er hatte gehört, welch unglaublich verderbliche Macht diesen Apparaten nachgesagt wurde. Schließlich, sagte er sich, könne man ja auch nicht ahnen, was sich diese Christen alles ansahen. Und so war er zwar von der Tatsache beeindruckt, dass der Bus ständig Strom hatte, doch beunruhigte ihn zugleich der Gedanke, dass die Fernsehgeräte eingeschaltet werden könnten.
Er wusste nicht, was er davon halten sollte, dass er die Fernseher mehr fürchtete als die Anwesenheit der Frauen, ja, dass er lieber den Frauen zuschaute als fernsah. Er versuchte, sich innerlich über die Fernseher lustig zu machen, so, wie er sich über die körperliche Nähe der Frauen lustig gemacht hatte, doch wollte es ihm nicht gelingen. Er fand für sich einfach keine Rechtfertigung, die es ihm erlaubte, willentlich fernzusehen, ohne sich zu fühlen, als stürze er sich mutwillig in einen bodenlosen Pfuhl der Sünde und Versuchung. Er wollte sich beruhigen, indem er sich einredete, die am Bildschirm gezeigten Frauen seien auch nicht anders als die Frauen um ihn herum, doch eine innere Stimme hielt dagegen: Was ist, wenn der Fernseher Bilder von nackten Frauen zeigt? Was ist, wenn du dort Bilder von Leuten siehst, die Alkohol trinken? Was ist, wenn der Prophet Mohammed beschimpft wird? Aber vielleicht sind diese beiden Dinger ja auch gar keine Fernsehapparate. Bist du schon einmal in so einem Bus gewesen? Was, wenn sie nur aussehen wie TV -Geräte? Verwirrt lenkte Jubril
seine Aufmerksamkeit zurück in sichere Gefilde und sah erneut den Frauen zu.
Ijeoma und Tega hatten aufgehört, sich um das Gepäck zu streiten, und saßen wieder auf ihren Plätzen. Ijeoma hatte verloren und hielt ihre Tasche auf dem Schoß, hörte aber nicht auf, Tega zu beschimpfen, und murmelte unablässig vor sich hin. Jubril beobachtete sie aufmerksam und musterte insbesondere ihre langen, schönen Beine. Er wollte auch ihre Füße sehen, was aber nicht ging, weil der Bus zu voll war. Dann konzentrierte sich sein Blick auf ihre Finger, auf die über der Tasche ineinander verschränkten Hände. Eine Zeitlang bewunderte er sie, bis ihm auffiel, dass ihn vor allem der hochrote Nagellack faszinierte. Er warf einen Blick auf seine eigenen Fingernägel der linken Hand; sie waren schmutzig und rissig, außerdem hatte er sie auf der Flucht abgekaut. Jubril beugte sich noch weiter vor, weil er unbedingt wissen wollte, ob sich Ijeoma auch die Zehennägel angemalt hatte, konnte sie aber nicht sehen. Dann blickte er zu Tega hinüber, der Ijeomas Hasstiraden galten. Sie saß so ruhig da, als wäre es eine tolle Leistung, in einem Bus den Kampf um die Unterbringung des Gepäcks gewonnen zu haben. Tegas Fingernägel hatten ihre natürliche Farbe, glänzten aber zu stark, um echt zu sein; außerdem fiel Jubril auf, wie lang ihre Nägel waren. Wie wollte eine Frau mit solchen Klauen für ihren Mann kochen oder Wäsche waschen, fragte er sich. Jubril mochte Tega nicht, konnte aber den Blick nicht von den bunten Perlen in ihrem schmutzigen Haar abwenden. All dies brachte ihn schließlich dazu, die verschiedenen Frisuren im Bus zu vergleichen. Er kannte die Bezeichnungen dafür nicht und fragte sich, wie sie wohl hießen. Manche waren durchaus attraktiv, das musste er zugeben, andere hässlich, einige frisch geflochten, andere schon etwas aufgelöst. Manche wirkten ungepflegt, andere so wild und
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