Sag, dass du eine von ihnen bist
chaotisch, als wäre die Gewalt der letzten beiden Tage von ihnen ausgegangen.
Als er keine Frisuren mehr zum Vergleichen fand, fragte
sich Jubril, ob es wohl mehr Frauen als Männer im Bus gab, und begann zu zählen. Er blickte sogar aus dem Fenster und zählte die Frauen, die er draußen sehen konnte. Er war wie besessen: Je mehr Frauen er sah oder zählte, desto mehr Frauen brauchte er, um seine Angst vor den Fernsehapparaten im Zaum zu halten. Allerdings war die Anzahl der Frauen im Bus begrenzt. Einen Moment lang schloss er die Augen und versuchte zu beten, doch der Drang, wieder zu den Bildschirmen zu schauen, überkam ihn wie plötzlicher Durchfall. Wieder dachte sich sein Verstand Gründe aus, warum er zur Mattscheibe schauen sollte. Nun, sie sind ja noch gar nicht an, sagte er sich. Sicher schickte ihm Allah hiermit nur eine weitere Versuchung, die ihn stark machen sollte. Ihm war, als wäre er Satan so nahe gekommen, dass er ihm unwillkürlich auf die Hufe, den langen Schwanz und die Hörner starren musste.
Die Fernseher hingen in Eisenkäfigen an der Decke, die braunen, lieblos zusammengeschweißten Streben ein auffälliger Gegensatz zum glatten, aschgrauen Schwarz der Bildschirme. Einer hing direkt hinter dem Fahrersitz, der andere mitten im Bus. Hastig nahm Jubril die Einzelheiten in sich auf, als könnten die Geräte jeden Moment zum Leben erwachen und er dann gezwungen sein, den Blick abzuwenden oder die Augen zu schließen.
Der Fieberkranke, den Emeka beschimpft hatte, begann plötzlich zu weinen, und Jubrils Aufmerksamkeit richtete sich erneut auf seine unmittelbare Umgebung. Wie der Mann zusammengesunken auf seinem Platz lag, die Decke fest um sich gezogen, erinnerte er Jubril an Leichen, die er bei der Flucht aus Khamfi gesehen hatte. Die Sitznachbarn des Kranken versuchten, ihm zu helfen. Emeka holte drei Packungen Fansidar aus seiner Tasche. »Das hier sollte gegen Malaria genügen«, sagte er, als er dem Mann die Medikamente gab. »Einen Toten können wir hier drinnen nicht gebrauchen.«
»Drei Packungen?«, fragte Madame Aniema, eine alte Frau. »Normal reicht eine Packung mit drei Tabletten. Mit neun Tabletten bringen Sie ihn um!«
Zu ihrem schönen wrappa trug sie eine grüne Spitzenbluse, hatte aber kein Kopftuch um. Das faltige Gesicht wurde von buschigem, weißem Haar eingefasst, und sie trug eine Brille. Sie saß in derselben Reihe wie Emeka, allerdings am Fenster.
»Bei allen Göttern, ihm wird schon nichts passieren«, sagte Emeka.
»Sie geben ihm eine Überdosis«, widersprach sie.
»Dann sind Sie wohl keine Gläubige, wie?«
»Darum geht's doch gar nicht.«
»Sie müssen einer dieser alten, längst toten Kirchen angehören.«
Die Mehrheit der Leute war Emekas Ansicht, auch der Patient selbst. Alle argumentierten, der Kranke bräuchte eine kleine Überdosis, gleichsam zum »Ausgleich« für das hohe Fieber.
Madame Aniema entnahm ihrer Handtasche eine kleine Flasche mit Wasser und half dem Mann, die Tabletten zu schlucken. Sie kümmerte sich auch danach noch um ihn. Jubril fand ihre Fürsorge beeindruckend und musterte die Frau wohlwollend, ohne sie jedoch anzustarren oder insgeheim etwa über ihr unbedecktes Haar zu lachen. Ihre würdevolle Art erinnerte ihn an seine Mutter, auch wenn sie viel älter zu sein schien; dabei war ihm die Alte bislang gar nicht aufgefallen. Wahrscheinlich hatte er sie sogar bei seiner Zählung übersehen. Ihn verblüffte, wie er auf sie reagierte. Bis zu diesem Moment hätte er nicht geglaubt, etwas Ähnliches für jemand anderen als für seine Mutter empfinden zu können. Wenn es sich um Frauen handelte, steckte er sie in Gedanken ausnahmslos in eine ganz bestimmte Schublade – das war einfacher. Allerdings konnte er nicht erkennen, was an Madame Aniema besonderes war. Schließlich sah er nicht zum ersten Mal eine alte Frau oder eine, die sich fürsorglich um jemanden kümmerte.
»Ich glaube nicht, dass er es schafft!«, sagte Emeka, womit sich Jubrils Gedanken wieder dem Kranken zuwandten.
Der Mann wurde von einem Schüttelfrost gepackt, und als er zu sprechen versuchte, zitterte sogar seine Stimme. Wie meist bei Malaria-Patienten schwitzte er außerdem reichlich. Madame Aniema hielt ihn wie ein kleines Kind.
»Der stirbt nicht«, sagte Tega. »Satan na Lügner!«
» Na, selber Lügner!«, fuhr Ijeoma sie an, deren große Augen ihr ganzes Gesicht einzunehmen schienen. »Wasch dir mal lieber dein blödes Haar, jo o !«
»Gott, du bist
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