Sag, dass du eine von ihnen bist
seinen Abfall vom Glauben zu Tode gesteinigt. Jubril beteiligte sich zwar nicht an der Ermordung seines Bruders, war aber nahe genug, um ihn in Zungen beten zu hören, als die Steine auf ihn niederprasselten.
Auf der langen Fahrt im Bus gingen ihm diese Erinnerungen durch den Sinn. Der Verlust materieller Dinge – etwa der Dutzend Kühe in seiner Obhut, die seine Angreifer sicher längst getötet oder für sich beansprucht hatten – machte ihm nichts aus. Und es wollte ihm jetzt auch nicht gelingen, an die nationalen Folgen dieses Aufstands zu denken. Er mochte nicht einmal an seine früheren Freunde denken, die ihm geholfen hatten, aus Khamfi zu fliehen, mochte sich nicht an die Jahre der Kindheit erinnern, als sie barfuß über die staubigen, ungepflasterten Straßen von Meta Nadum gerannt waren, an die Nachmittage, an denen sie gemeinsam Karotten und Kohl im breiten Tal am Fluss gepflanzt hatten, an den ihr Viertel grenzte. Es war besser, all das zu vergessen. Er wollte nicht an die Gespräche denken, die sie geführt hatten, wenn sie nach dem Freitag Jummat in langen Gewändern, in babarigas und jhalabias , aus der Moschee geströmt waren, ihre fröhliche Meute der Inbegriff von Freundschaft; oder daran, wie sie in den Häusern ihrer jeweiligen Familien Rast gemacht hatten, um zu essen und zobo zu trinken. Er wollte nicht an die Jahre denken, in denen sie gemeinsam am Stadtrand von Khamfi Kühe gehütet hatten, an die vielen Male, als sie sich um die Gesundheit eines Kalbs sorgten und das ein oder andere Tier wie ein guter Hirte auf den Schultern heimgetragen hatten, oder an jene Gelegenheiten, bei denen sie während irgendwelcher Aufstände auf christliche Gebiete vorgedrungen waren, um Kirchen in Brand zu setzen.
Sie hatten Jubril einen wahrhaften Muslim genannt, da er nicht zuließ, dass die Treue zur Familie zwischen ihm und seiner Religion stand, als Yusuf seine gerechte Strafe erhielt. Und Meta Nadum hatte auch dann zu ihm gehalten, als er sich anstandslos die Hand abhacken ließ, zur Strafe, weil er eine Ziege gestohlen hatte. Später, beim Interview mit einigen hartnäckigen Journalisten, hatte er beispiellose Zuversicht in seinen Glauben bekundet, auch wenn er nicht wollte, dass man ein
Foto von ihm machte. Er hatte sogar gebeten, den Menschenrechtlern, die seinen Fall vor den obersten Gerichtshof bringen wollten, doch zu sagen, dass sie sich die Mühe sparen sollten. Irgendwie war er ein Held geworden. Ein reicher Mann hatte ihm gar seine Kühe zum Hüten anvertraut.
Jetzt wollte er nur noch um seine Mutter weinen, die während der Unruhen verschwunden war, wollte sich damit trösten, dass man sie, wie ihn, nicht getötet, sondern sicher nur vertrieben hatte. Er wollte sich bei ihr wegen der Feindseligkeiten zwischen ihm und Yusuf entschuldigen. Hätte Jubril jetzt, nachdem seine Freunde ihn verraten hatten, intensiv über Yusufs Tod nachgedacht, wäre er daran zerbrochen; so versuchte er, an Yusuf nur in Zusammenhang mit dem Kummer seiner Mutter zu denken. Ein Leben ohne sie konnte er sich nicht vorstellen. Also zog er es vor, sie in Gedanken daheim im ummauerten Hof am Rand des Viertels zu sehen, wo sie beide mit seinen Onkeln mütterlicherseits gewohnt hatten. Er sah sie, wie sie von Zimmer zu Zimmer ging, ihre tashib , die Gebetsperlen, durch die Hand gleiten ließ und um Yusuf weinte, bis ihre Augen so rot und trocken wie die Lehmwände der Silos auf ihrem rechtwinkligen Hof waren. Er konnte sie sehen, ihre hohe Gestalt vom Gram um den Verlust des einen Sohnes gebeugt, wie sie in den Hof trat, als hätte ihr Kummer alle Räume gefüllt und schwemmte sie nun nach draußen.
Er stellte sich vor, wie seine Vettern und Onkel bei Ausbruch der Unruhen mit Gewehren und Macheten Wache standen, um zu verhindern, dass der aufgebrachte Mob der almajeris – der Koranschüler, manche fast verrückt vom jahrelangen Betteln auf den Straßen – ihre Häuser plünderte. Er sah die Gesichter einiger von ihnen, sah den Mob in den Straßen und endlose Staubwolken, die so hoch wie die Minarette der vielen privaten Moscheen in seinem Viertel aufstiegen. Allerdings empfand er nichts für diese Muslime, ebenso wenig wie für die Christen, mit denen er nun floh. Er konnte kaum davon
ausgehen, dass ihn seine Verwandten in Khamfi schützten, auch war er nicht bereit, sonst irgendwem sein Leben anzuvertrauen, wie er es in der Vergangenheit getan hatte.
An jenem schicksalhaften Nachmittag, an dem in Khamfi die
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