Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)

Kopf und hochgezogenen Schultern an der Medienmeute vorbei.
    Ich kenne diesen Blick. Ich habe ihn im Spiegel gesehen. Ich habe ihn gestern Nacht in Drurys Augen gesehen, als er Victoria nicht trösten konnte. Es macht einen Mann kleiner, wenn er eine Frau nicht glücklich machen kann … wenn er sie unglücklich macht. Die Welt ist nicht mehr reich und farbenfroh. Er nimmt nur den Mangel wahr.
    Wie ist es passiert, frage ich mich. Ich stelle mir vor, wie Sarah Hadley mit einem Kleidungsstück von Piper neben ihrem Bett steht, als würde sie etwas Neues über ihre Tochter entdecken. Sie denkt an ihre glücklichsten Momente, versucht, sie in der Erinnerung lebendig zu halten. Sie hat sich an jede Fehlinformation und jedes Gerücht geklammert, hat Hellseher und Wahrsager konsultiert. Vic McBain hat sie einer seiner Freundinnen vorgestellt, die behauptete, über diese besondere Gabe zu verfügen. Die hat Sarah erzählt, dass die Mädchen noch lebten. Sie hat ihr Trost gegeben. Hoffnung.
    Trauern kann einsam machen. Kummer kann man teilen. Ihren Mann konnte Sarah nicht angucken, weil er sie zu sehr an Piper erinnerte. Vic McBain verstand das. Und so kamen sie eines Abends zusammen, wahrscheinlich in irgendeinem entlegenen Hotel oder wie unbeholfene Jugendliche auf der Rückbank eines Autos. Vic McBain ermöglichte es Sarah, wieder sie selbst zu sein – nicht die Mutter, die eine Kampagne leitet und mit den Medien spricht, nicht die Frau, die die Einheimischen bemitleiden, wenn sie sie mit einem Einkaufwagen im Supermarkt sehen …
    Sie konnte dem Getuschel und den Blicken entkommen und ein paar Stunden lang anonym sein, irgendwo zwischen Fantasie und Realität, Lust statt Verlust spüren oder vielleicht einfach gar nichts.
    Denn trotz ihrer aufopferungsvollen Kampagne ist Sarah Hadley voller Selbstverachtung. Sie hat einen unattraktiven Mann mit Geld geheiratet, einen Mann, der sie liebte, ohne dass sie diese Gefühle erwidert hätte. Sie hat sich nur bis in die Mitte, nicht bis nach ganz oben gevögelt. Das hätte sie ja irgendwie noch akzeptieren können, doch dann verschwand ihre Tochter, und sie gab sich die Schuld dafür und dachte, dass sie es verdient hatte, unglücklich zu sein. Eine Ehe, die nur mit Apparaten am Leben erhalten wird, und schmutziger Sex in einem billigen Hotelzimmer mit Blick auf einen Teppich-Discounter.
    Vic McBain hat die Straßenecke erreicht und wartet, dass die Ampel grün wird. Ich hole ihn ein.
    »Ich weiß, was Sie verbergen«, sage ich.
    Er antwortet nicht.
    »Sagen Sie mir nur eins. Danach lasse ich Sie in Ruhe, das verspreche ich Ihnen. Am Abend des Schneesturms, waren Sie da mit Sarah Hadley zusammen?«
    Er blinzelt mich an, ein starker, schweigsamer Mann, um Antworten verlegen.
    »Ich werde es ihrem Mann nicht sagen«, versichere ich ihm. »Niemand sonst muss es erfahren.«
    Er wischt sich mit dem Finger über beide Augenwinkel.
    »Sie hat etwas Besseres verdient als mich«, sagt er. »Sie hat es verdient, ihre Tochter zu finden.«

33
    Hinter den Glastüren des Konferenzraums geht ein Blitzlichtgewitter nieder. Durch die Milchglasscheiben sieht es aus wie ein Feuergefecht ohne Ton. Reporter und Fotografen drängen sich in dem überheizten Raum und decken jeden Winkel ab.
    Dale und Sarah Hadley kommen durch eine Seitentür herein. Sie wirken wie gefangen in dem Licht. Phoebe hält die Hand ihrer Mutter fest und den Blick gesenkt. Ihre jüngeren Geschwister sind in der Obhut von Freunden oder Verwandten zu Hause geblieben.
    Die Familie nimmt an einem langen Tisch Platz. Kameraverschlüsse klicken weiter. Ein weiteres Mal nimmt Piper Hadley die Aufmerksamkeit der Nation in Beschlag. Ein weiteres Mal wird ihr Schicksal über Gartenzäune, in Kneipen und Bürokantinen diskutiert. Vergleiche mit anderen prominenten Entführungsopfern werden gezogen, Namen wie Sabine Dardenne, Elizabeth Smart und Natascha Kampusch, die alle wie durch ein Wunder zurückgekehrt sind.
    DCI Drury setzt sich neben die Hadleys und wartet, bis das Klicken der Kameras verstummt ist.
    »Die Leiche, die vor sechs Tagen aus den Radley Lakes geborgen wurde, ist mithilfe des Zahnstatus identifiziert worden, die nächsten Verwandten wurden benachrichtigt. Deshalb kann ich den Namen der Toten jetzt öffentlich bekannt geben. Wir untersuchen den Tod von Natasha McBain, achtzehn Jahre alt, die am Wochenende des 30. August 2008 aus dem Dorf Bingham verschwunden ist. Die offizielle Todesursache ist Ertrinken.«
    Ein