Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
ihre Knie berühren sich beinahe. Sie will etwas sagen, bringt jedoch keinen Laut heraus. Dies ist der Moment, in dem alle Trauer und die schrecklichen Zweifel ihren Höhepunkt erreichen.
»Gestern am späten Abend bekam ich einen Anruf vom leitenden Pathologen in der Leichenhalle des John Radcliffe Hospitals. Zahnmedizinische Unterlagen haben bestätigt, dass die Leiche, die vor vier Tagen aus den Radley Lakes geborgen wurde, Ihre Tochter ist.«
Mrs McBain sieht erst ihn und dann mich an. »Aber im Radio haben sie gesagt, es wäre eine Frau.«
»Es war definitiv Natasha. Mein tief empfundenes Beileid zu Ihrem Verlust.«
Alice schüttelt den Kopf. Ihre Augen drücken keine Emotion aus, finden keinen Fokus. Sie versteht die Nachricht, aber sie fühlt sie noch nicht.
»Natasha ist tot, Mum«, sagt Hayden.
Tief aus ihrer Brust dringt ein Stöhnen. Sie hebt erst eine, dann auch die andere Faust vor den Mund und presst sie gegen ihre Lippen. Sie sieht mich an, will eine Bestätigung, während sie gleichzeitig alles jenseits dieses Augenblicks fürchtet.
Beinahe genauso schnell scheint ihre Trauer wieder zu verpuffen. Sie lässt die Hände in den Schoß sinken. Sie ist nicht wütend auf Drury. Sie schleudert ihm keine Beleidigungen an den Kopf, keine Vorwürfe, keine Schuldzuweisungen.
Bescheiden und anspruchslos senkt sie den Blick auf den fadenscheinigen Teppich.
»Wurde sie vergewaltigt?«, fragt Hayden.
»Ich kann nicht über ihre Verletzungen sprechen«, sagt Drury.
»Es ist drei Jahre her – wo ist sie gewesen?«
»Wir wissen es nicht.«
Drury wendet sich an Alice.
»Ich muss Ihnen einige Fragen stellen. Ich weiß, es ist schwierig für Sie. Hatten Sie irgendwas von Natasha gehört?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Keine Anrufe? Briefe? E-Mails?«
»Nein.«
»Hat irgendwann mal jemand angerufen und wieder aufgelegt?«
»Nein.«
»Ich muss mit Ihrem Mann sprechen, Mrs McBain.«
»Er ist nicht mehr mein Mann.«
»Ich muss trotzdem mit ihm sprechen.«
»Ich gebe Ihnen seine Adresse«, unterbricht Hayden.
Alice schnieft und dreht den Ärmel ihrer Strickjacke zusammen. »Wie ist meine Kleine gestorben?«
»Sie ist in einem See ertrunken. Sie wurde von dem Schneesturm überrascht.«
»Was hat sie dort draußen gemacht?«
»Wir glauben, dass sie möglicherweise versucht hat, nach Hause zu kommen. Die Radley Lakes sind nicht weit von ihrem früheren Zuhause entfernt.«
Alice wird von einem leichten Zittern erfasst, als würde etwas rasend schnell in ihr rotieren.
»Sie wollte nach Hause kommen?«
»Das ist nur eine Theorie.« Drury sieht mich kurz an und wendet sich wieder Alice zu. »Kannte Natasha einen Mann namens Augie Shaw?«
Hayden erstarrt. »Ist das das Schwein, das sie verschleppt hat?«
»Bitte beantworten Sie einfach die Frage.«
Hayden steht auf, beugt sich vor und wieder zurück wie ein Hund, der an einer Leine zerrt.
»Was hat er mit ihr gemacht?«
»Ich weiß, du bist wütend, Junge. Das ist unter den Umständen auch verständlich, aber du musst uns die Sache überlassen.«
Hayden hört nicht zu. »Ich hab ihn in den Nachrichten gesehen. Er hat diese Leute in unserem alten Haus getötet. Hat er Tash umgebracht? Was hat er ihr angetan?«
Drury sieht Alice an und hofft, dass sie eingreift, doch sie ringt immer noch mit der Nachricht, kämpft mit ihren Gefühlen.
Der DCI versucht es noch einmal. »Kannte Natasha William und Patricia Heyman?«
Alice schüttelt den Kopf.
»Und was ist mit ihrer Tochter Flora?«
»Ich weiß nicht.«
Hayden hebt ein Kissen vom Fußboden und presst es an seine Brust. Alice starrt auf den stummen Fernseher, als würde sie Lippen lesen. »Man liest diese Geschichten von Menschen, die die Hoffnung nie aufgeben. Die nie aufhören zu glauben, dass ihre Kinder nach Hause kommen …« Sie atmet tief ein. »Ich hab aufgehört, daran zu glauben. Ich habe Tash aufgegeben. Ich hätte mehr Glauben haben müssen.«
»Sie hätten nichts tun können«, sagt Drury.
»Wissen Sie, wie oft ich dagesessen und das Telefon angestarrt habe, um es zum Klingeln zu zwingen? Ich hab das Wochen, Monate, fast ein Jahr lang getan. Bis ich mich endlich davon überzeugt hatte, dass sie tot war. Ich habe aufgehört zu beten. Ich habe aufgehört zu glauben, dass sie noch lebt. In der dunkelsten Stunde der dunklen Nacht hab ich mein Mädchen im Stich gelassen … und sie hat die ganze Zeit gelebt. Sie hat versucht, nach Hause zu kommen.«
Ein abgerissener Schluchzer dringt aus
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