Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
der Bank, um zu sehen, ob die Sonne scheint oder es über Nacht geschneit hat. Kein Schnee. Kein Sonnenschein. Heute regnet es. Und es ist kälter als gestern.
Während ich hier stehe, kann ich beinahe spüren, wie Tash mit ihrem Gewicht erst auf meinen Schultern kniete und dann stand, als sie sich durch die enge Lücke zwängte. Ich hatte Angst, sie würde stecken bleiben und ich könnte sie nicht wieder reinziehen. Wie Pu der Bär in der Geschichte, wo er zu viel Honig isst und in Kaninchens Haustür stecken bleibt.
Ich befeuchte meinen Finger, halte ihn vor die Lücke und spüre den Luftzug auf meiner Haut. Dann male ich ein Herz auf das von innen beschlagene Fenster. Warum malen Menschen immer Herzen?
Tash ist jetzt vier Tage weg. Das mag einem nach drei Jahren nicht sehr lange vorkommen, aber manche Tage sind länger als andere. Manche Tage sind länger als Jahre.
Nur eine von uns konnte fliehen, weil wir nicht beide so hoch klettern konnten. Eine musste die andere heben. Tash war kleiner. Und sie hatte so viel Gewicht verloren.
Seit George sie hatte bluten lassen, benahm Tash sich anders. Ich weiß nicht, ob sie versucht hat, ihn mit dem Schraubenzieher zu stechen. Sie wollte nicht darüber reden. Stattdessen hat sie sich an den Handgelenken gekratzt, an den Fingernägeln gekaut und nur noch geschlafen … Ich hab versucht, mit ihr zu reden … ihr etwas zu essen zu machen, doch sie hatte nicht mal mehr die Kraft, mit mir zu streiten.
»Du machst mir Angst«, sagte ich und wiegte sie in meinen Armen.
»Wir werden sterben«, flüsterte sie nur.
Ich wusste, dass sie recht hatte. Es war wie eine Botschaft von Gott. Eine ziemlich enttäuschende Botschaft, aber ich machte ihm keine Vorwürfe. Darauf läuft am Ende alles hinaus – aufs Sterben. Na ja, nicht wortwörtlich alles, aber das meiste.
Tash schien keine Angst mehr zu haben. Vielleicht hat man weniger Angst, wenn man weiß, dass man sterben will. Manchmal ist kein Fels so schwer oder dunkel oder hoffnungslos, dass die Leute nicht darunterkriechen.
Die Idee kam mir, als ich wie jetzt dastand und durch den Spalt spähte. Mir fiel auf, wie das Kondenswasser auf der Innenseite der Scheibe heruntergesickert und am unteren Rand des Fensters gefroren war. Das Eis hatte sich in dem Spalt ausgedehnt und den Metallrahmen angehoben. Ich konnte einen Lichtstreif sehen, wo vorher keiner gewesen war. Mein alter Physiklehrer hat mir beigebracht, dass Wasser sich ausdehnt, wenn es friert. Deshalb kann es auch Granitfelsen aufbrechen.
Ich dachte, wenn es einen Felsen brechen kann, warum dann nicht ein Fenster oder eine Wand?
Also füllte ich eine Schale mit Wasser und zerriss ein altes T-Shirt. Ich weichte die Stofffetzen ein, stopfte sie in den Spalt und drückte sie mit einem Nagel fest, sodass Tropfen herausgepresst wurden und an der Mauer hinunterliefen.
In jener Nacht war es kalt. Der Stoff fror. Am nächsten Tag zog ich ihn heraus und machte ihn wieder feucht. Nacht für Nacht versuchte ich es aufs Neue. Lange Zeit glaubte ich, es würde nicht funktionieren. Die Lücke sah unverändert aus. Aber als ich eines Tages gegen das Fenster drückte, bewegte sich der ganze Rahmen.
Manche Nächte waren nicht kalt genug, um die Stofffetzen gefrieren zu lassen, doch dann gab es eine lange Kälteperiode. Wir zitterten nachts und schmiegten uns eng aneinander, um uns warm zu halten. Und jeden Morgen war der Spalt ein bisschen breiter geworden.
Ich schob meine Finger hinein und stellte überrascht fest, dass sich das Fenster bewegte. Ich versuchte es erneut, und es gab nach. Ich fing es auf, bevor es auf dem Boden zerbrach, und fiel rückwärts von der Bank. Der Fensterrahmen schlug mir die Stirn auf, aber es war keine tiefe Wunde.
Wo das Fenster gewesen war, klaffte jetzt ein Loch, doch da passte Tash nicht hindurch. Sie zog fast alle ihre Kleider aus. Erst kniete sie auf meinen Schultern, dann stand sie wacklig auf. Sie schob Kopf und Arme durch das Fenster, und ich drückte von unten, während sie sich an den Boden draußen klammerte und versuchte, sich durch die Öffnung zu ziehen.
Aber sie kam keinen Zentimeter von der Stelle. Ich konnte sie weder zurückzerren noch ganz nach draußen schieben und bekam plötzlich Angst, dass sie eingeklemmt in dem Fenster, halb im Schnee liegend, erfrieren würde. Mühsam streifte ich ihr die Leggins ab und goss Speiseöl über ihre Hüften und Schenkel.
»Ich schaff es nicht«, sagte sie immer wieder.
»Klar schaffst du
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