Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
einer von ihnen. Seine Stimme ist zu hoch, und er versucht, sie durch eine knurrende Art zu sprechen rauer zu machen. Ich habe seine Polizeiakte und die Mitschrift seiner Aussage vor Gericht gelesen. Ich kenne die Sorte. Er drangsaliert andere, wenn er kann, und ist Opfer, wenn es ihm passt. Ich kannte mal jemanden wie ihn, einen Jungen namens Martin Payne, der mir das Leben im Internat zur Hölle gemacht hat. Martin ging nach dem Studium zur Armee. Er kämpfte in Bosnien und Kuwait und wurde mit der Tapferkeitsmedaille der Königin ausgezeichnet. Aber ungeachtet dieser Heldentaten habe ich immer geglaubt, dass ihm die größte Gefahr durch einen verirrten Gedanken drohte, der ihn eines Tages zufällig ereilen könnte. Wie sich herausstellte, hatte ich recht. Nach dem Genuss von vierzehn Pints wettete Martin mit einem Freund, dass er über die Gleise zwischen zwei Bahnsteigen der Londoner U-Bahn springen könne – ein Satz, der Bob Beamon mit Stolz erfüllt hätte. Martin landete zwei Meter zu früh auf der stromführenden Schiene. Tod durch Idiotie.
Aiden lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und kratzt sich im Schritt. Ich zeige auf sein Kruzifix.
»Hilft Gott Ihnen, ruhig zu schlafen, oder macht es sich nur gut bei der Bewährungskommission?«
»Der Priester hier war gut zu mir.«
»Reden wir über Natasha.«
»Was ist mit ihr passiert?«
»Sie ist auf einem zugefrorenen See eingebrochen.«
»In London?«
Es entsteht eine Pause, bevor Ruiz die naheliegende Frage stellt. »Wie kommen Sie darauf, dass sie in London war?«
Aiden zögert und legt sich eine Lüge zurecht.
»Hatten Sie von ihr gehört?«, frage ich.
»Nein.«
»Warum dann?«
Wieder dehnt sich das Schweigen. Ruiz bricht es als Erster. »Ich möchte Ihnen einen kostenlosen Ratschlag geben, Aiden, weil Sie noch sechs Monate vor sich haben. Die meisten Insassen sind ungebildete, gewalttätige, gestrandete Drogensüchtige und Gewohnheitsverbrecher. Sie wissen, wie man das System bedienen muss … um zu überleben. Aber Sie, Aiden, Sie haben das nicht drauf. Sie sind zu jung und zu hübsch für einen Ort wie diesen. Ich wette, die Wölfe haben schon Witterung aufgenommen und warten nur darauf, Sie in eine kleine Gefängnisromanze einzuführen.«
»Auf gar keinen Fall, Mann.«
Am anderen Ende des Raumes fällt etwas klappernd zu Boden, Aiden fährt wie angestochen herum. Im nächsten Moment gehen die Unterhaltungen weiter. Aiden versucht, den Schrecken abzuschütteln, doch er wirkt nicht mehr so selbstsicher.
»Das Duschen muss der reinste Albtraum sein«, fährt Ruiz fort. »Was soll man machen? Wenn man sich wehrt, wird man bestraft. In der Frühstücksschlange abgestochen. Oder irgendjemand gießt nachts Feuerzeugbenzin über Ihr Bett. Schlafen Sie gut, Aiden? Ich an Ihrer Stelle würde es nicht tun. Ich würde mich mit dem Rücken immer an die Wand drücken.«
Aiden hat die Augen aufgerissen.
»Aber vielleicht haben Sie ja auch einen Wohltäter gefunden, der sich um Sie kümmert. Was geben Sie ihm dafür? Bücken Sie sich für jemanden, Aiden? Schmuggeln Sie auch Drogen für ihn oder führen ihm andere Zärtlinge zu?«
»Das ist alles totaler Blödsinn!«
»Ich frage mich, wie Ihre Kumpel reagieren, wenn sie hören, dass Sie eine Knastnutte geworden sind.«
»Scheiße, Mann, nein! Ich bin keine Nutte.«
»So ein Gerücht ist schwer zu entkräften. Die Mädchen werden Sie nicht mehr so behandeln wie vorher. Sie verlangen einen AIDS -Test von Ihnen, bevor Sie sie auch nur angucken dürfen.«
Aidens Blick wird glasig. »Das ist doch alles Mist!«
»Aber ich erzähle Ihnen bestimmt nichts, was Sie nicht längst wissen«, sagt Ruiz. »Was Ihre Kumpel denken, ist vielleicht nicht so wichtig. Sollen Sie doch hinter Ihrem Rücken Geschichten erzählen – über irgendeinen plattnasigen Knacki mit Hasenscharte, der Sie allein unter der Dusche getroffen und Ihnen süße Komplimente ins Ohr geflüstert hat.«
»Das ist verdammt noch mal nie passiert.«
»Ich glaube Ihnen, wirklich.« Ruiz sieht mich an. »Ich weiß auch nicht, wie diese Gerüchte entstehen.«
Das Schweigen dauert ein Dutzend Herzschläge.
»Sie hat mir einen Brief geschrieben«, sagt Aiden.
»Wer?«, frage ich.
»Tash.«
»Wann?«
»Ein paar Monate nach ihrem Verschwinden.« Er blickt blinzelnd zur Decke und fährt fort: »Sie hat gesagt, sie und Piper wären in London. Sie würden in einem besetzten Haus wohnen und für irgendeinen Typen arbeiten, der einen Laden in
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