Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
sie nicht unsicher und befangen wirkt. Stattdessen ist sie entspannt und in dem Augenblick vollkommen glücklich.
Mit einem Blick auf den Stapel von Tagebüchern denke ich, dass ich der Enthüllung ihres geheimen Lebens keinen Schritt näher gekommen bin. In Tashs Zimmer hat man Kondome und zwei Cannabiszigaretten gefunden. Sie hatte ältere Freunde und war sexuell aktiv. Piper wusste all das, hat aber nicht darüber geschrieben.
Kleinstädte wie Bingham können oft täuschen. Sie gelten als ländliche Idylle und der perfekte Ort, um Kinder großzuziehen. Die Leute fühlen sich zurückversetzt in längst vergangene Tage und stellen sich nostalgisch eine Welt mit weißen Gartenzäunen, Eckkneipen und Dorfbobbys vor.
Die Realität sieht häufig ganz anders aus. Größere Städte dehnen sich aus und schlucken kleine Dörfer, verwandeln sie in Satelliten- und Schlafstädte für Pendler. Gegenden kommen herunter. Hier und da breitet sich Armut aus, Arbeitslosigkeit, häusliche Gewalt, Langeweile.
Die Teenager spüren es am meisten. Zu jung, um zu trinken oder zu fahren, ohne Kinos, Geschäfte oder Jugendzentren amüsieren sie sich woanders, crashen Partys und experimentieren mit Sex, weichen Drogen und Alkohol. Junge Mädchen wie Natasha fühlen sich zu älteren Männern hingezogen. Die Jungen in ihrem eigenen Alter sind langsamer, weniger weltgewandt, während ältere Männer Autos und Geld haben, das sie in Restaurants und für schicke Klamotten ausgeben können. Die Tatsache, dass ein erwachsener Mann sich für sie interessieren könnte, erregt die Mädchen, doch sie sind zu jung, um die Gefahr zu verstehen, die darin liegt, das Begehren eines Mannes anzufachen.
Irgendwann schlafe ich in meiner Kleidung ein, ein Tagebuch aufgeschlagen auf meiner Brust. Ein Telefon dringt in meine Träume. Mein Handy. Es summt, und auf dem Display steht der Name Victoria Naparstek.
Bevor ich irgendwas sagen kann, ruft sie ins Telefon.
»Bitte, bitte, hilf mir! Sie sind vor der Tür!«
Ich höre Schreie im Hintergrund.
»Wo bist du?«
»Bei Augie … draußen sind Leute … die wollen ihn töten. Sie haben gesagt, sie werden ihn ausräuchern.«
»Wo ist die Polizei?«
»Ich habe sie alarmiert.«
»Und Augie?«
»Er ist hier … mit seiner Mutter. Sie haben Angst. Ich habe Angst.«
»Habt ihr Fenster und Türen verriegelt?«
»Ja.«
»Okay, bleibt von den Fenstern weg. Ich komme.«
Ruiz geht nicht an sein Handy. Ich hinterlasse eine Nachricht auf der Mailbox. Ich streife Socken und Schuhe über und renne zum Aufzug. Die Straßen sind menschenleer. In Schaufenstern und hinter Netzgardinen glitzern und blinken Weihnachtslichter.
Ich überfahre rote Ampeln an leeren Kreuzungen, überhole Streufahrzeuge und erreiche das Haus in weniger als fünfzehn Minuten. Etwa fünfzig Menschen drängeln sich im Vorgarten und auf dem Bürgersteig bis auf die sonst leere Straße. Weitere Wagen treffen ein.
Vor dem zweistöckigen Haus sind ein Dutzend Polizeibeamte aufgereiht, in der Unterzahl, nervös. Sie rufen den Leuten zu, sie sollen nach Hause gehen, doch der Protest hat bereits zu viel Fahrt aufgenommen. Hayden McBain steht in der Mitte der Menge, direkt hinter seinem Onkel.
»Er ist ein Kindermörder!«, brüllt Vic McBain. »Und wir wollen ihn hier nicht! Auf unseren Straßen sind Kinder unterwegs. Wir wollen nicht, dass dieses perverse Schwein sie anrührt. Das ist unsere Stadt. Das sind unsere Kinder.«
Die Menge bekräftigt jeden Satz mit einem Johlen und beginnt dann zu skandieren: »Abschaum! Abschaum! Abschaum! ABSCHAUM !«
Ich kämpfe mich bis nach vorn durch und erkenne einen der Constables.
»Wo sind die anderen Polizisten?«, rufe ich ihm zu.
»Kommen.«
»Kann ich rein?«
Er nickt und hält das Gartentor auf. Victoria öffnet die Haustür und schließt sie rasch wieder. Als sie mich umarmt, spüre ich ihre Erleichterung und ihre Angst. Ich blicke den Flur hinunter und sehe Augie, der halb verborgen hinter dem Türrahmen aus der Küche späht. Seine Mutter steht in einem Bademantel neben ihm, die Haare ungekämmt, ihre Haut sieht beinahe gelbsüchtig aus.
»Sind alle unverletzt?«
Sie nicken.
Augie hat die dunklen ernsten Augen seiner Mutter, doch selbst wenn er den Blick fest auf jemanden richtet, zucken sie immer wieder zur Seite. Seine Hände sind nicht mehr verbunden, die Haut jedoch ist noch immer gerötet und dick eingecremt.
Die Rufe von draußen werden lauter. Ich gehe ins Wohnzimmer und öffne die
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