Sag, es tut dir leid: Psychothriller (German Edition)
Gardinen einen Spalt. Weitere Polizisten sind eingetroffen und haben sich zu einer Menschenkette untergehakt, doch sie sind hoffnungslos in der Unterzahl.
Ich gehe zurück zu den anderen in die Küche und versuche, sie zu beruhigen. »Wie wär’s mit einer Tasse Tee?«
Victoria füllt den Kessel.
»Warum können sie uns nicht einfach in Ruhe lassen?«, fragt Mrs Shaw.
»Sie sind wütend auf mich«, sagt Augie.
Victoria schüttelt den Kopf. »Es ist nicht deine Schuld.«
»Wessen Schuld ist es dann?«
»Du hättest nie zu diesem Bauernhaus gehen sollen«, sagt seine Mutter. »Du hättest dich von diesen Leuten fernhalten sollen.«
Sie bindet ihren Bademantel fester zu und durchsucht die Speisekammer nach einer Packung Kekse. »Ich weiß, dass ich noch welche hatte«, sagt sie und fragt dann Augie: »Hast du die Kekse gegessen?«
Er senkt den Kopf.
Noch mehr Polizisten sind eingetroffen, aber auch weitere Demonstranten. Flaschen und Ziegelsteine werden geworfen, Leiber zurückgedrängt. Die Menge formiert sich neu und drängt wieder nach vorn. Jedes Mal wenn sie »Abschaum« ruft, zuckt Augie zusammen. Er hält sich verzweifelt die Ohren zu und flüstert mit der Stimme eines kleinen Jungen: »Es ist meine Schuld. Ich konnte sie nicht retten.«
»Wen konntest du nicht retten?«
»Alle.« Er legt seinen Finger an die Stirn und dreht ihn, als würde er ihn in seinen Schädel bohren. »Ich konnte Mrs Heyman nicht vor dem Feuer retten. Ich konnte meinen Bruder nicht retten. Ich konnte das Mädchen nicht retten.«
»Natasha?«
»Der Schneemann hat sie genommen.«
»Warum nennst du ihn den Schneemann?«
»Er war aus Schnee.«
Im Wohnzimmer zersplittert ein Fenster. Mrs Shaw schreit. Beinahe gleichzeitig klirrt im ersten Stock Glas. Steine und Flaschen werden gegen das Haus geworfen.
»Ihr bleibt alle hier«, sage ich.
Geduckt renne ich durch den Flur ins Wohnzimmer. Die Gardinen bauschen sich auf, Glassplitter liegen auf dem Teppich. Ich bewege mich ans Fenster und spähe hinaus. Die Polizei hat unter einem Hagel von Wurfgeschossen das Terrain aufgegeben.
Flaschen und Steine prallen von geparkten Wagen ab oder treffen hin und wieder ein Fenster. Ein Polizeitransporter hat es noch ein Stück die Straße hinuntergeschafft, bevor seine Besatzung ihn verlassen hat. Ein paar Männer aus der Meute wippen ihn hin und her, bis er Schwung aufnimmt und zur Seite umkippt. Metall knirscht auf Asphalt.
Ein Ziegelstein kracht gegen das Fensterkreuz über meinem Kopf, ein weiterer zerschmettert ein gerahmtes Foto auf dem Kaminsims.
Auf allen vieren krieche ich zur Haustür und halte mein Ohr dagegen. Ich höre, wie ein Polizist draußen über Funk verzweifelt Unterstützung anfordert. Ich öffne die Tür einen Spalt und sehe Blut, das von seinem Nasenrücken über seine Lippen läuft.
»Bleiben Sie im Haus, Sir«, weist er mich an.
Im selben Moment trifft ihn ein Stein mitten ins Gesicht. Sein Kopf sackt in den Nacken, er geht zu Boden, sein Helm rollt über die Treppe. Ich sehe ein gelbes Flackern in der Dunkelheit und höre einen krachenden Einschlag. Ein Geräusch wie eine gedämpfte Explosion erfüllt das Wohnzimmer. Benzin, das in Flammen aufgeht. Licht.
»Es brennt!«, schreit Mrs Shaw.
»Bleiben Sie in der Küche!«, rufe ich zurück.
Ich trete den Rückzug durch den Flur an und schließe die Türen hinter mir. In der Küche blicke ich aus dem Fenster und bemerke ein Tor auf der Rückseite des Gartens.
»Wohin führt das?«
Mrs Shaw sieht mich einen Moment lang verwirrt an. »Auf eine Gasse hinter den Häusern zur Lovett Road.«
»Wo ist Augie?«
»Ich dachte, er wäre bei Ihnen.«
»Nein.«
»Dann muss er oben sein.«
»Ohne Augie gehe ich nicht«, sagt seine Mutter.
»Ich hole ihn.«
Ich bedecke Mund und Nase und nehme jeweils zwei Stufen auf einmal. Oben gibt es drei Zimmer, zwei davon Schlafzimmer, die mit zu vielen Möbeln zugestellt sind. Ich rufe Augies Namen. Keine Antwort. Ich sehe ihn nirgendwo.
Ich gehe um die Betten, steige über Kleider und blicke durch ein zerbrochenes Fenster auf die Straße. Vom Ende der Straße marschiert eine Phalanx von Polizisten mit Helmen und schwarzen Körperpanzern auf. Die Verstärkung. Sie drängen die Menschenmenge zurück und räumen die Straße wie ein menschlicher Bulldozer. Der Asphalt hinter ihnen ist mit zerbrochenen Backsteinen und Scherben übersät. Der Polizeitransporter brennt.
Ich kann Augie nicht finden. Ich gucke in Schränke und unter
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