Sag Mami Good bye - Fielding, J: Sag Mami Good bye - Kiss Mommy Good Bye
fragte sie sich, ob es da überhaupt jemanden gegeben hatte.
Zwanzig Minuten später wachte sie abrupt wieder auf und ging ins Badezimmer. Dort öffnete sie das Arzneischränkchen, nahm den Lady Shave heraus, ersetzte die alte Klinge durch eine neue. Dann seifte sie sich die Achseln ein und rasierte sich sämtliche Spuren der »modernen Frau« fort.
Hier und dort versuchte sie ihre Haut zu verschönern, wobei sie die nicht zu beseitigenden Narben ignorierte; dann widmete sie sich ihren Beinen. Sie hob ein Bein ins Waschbekken, rieb mit einem nassen Lappen darüber, trug Seifenschaum auf. Anschließend ließ sie den Rasierer mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen auf und ab gleiten.
Trotzdem schnitt sie sich, zuerst rein zufällig. Es handelte sich um eine neue Klinge, und Donna hatte offenbar zu fest aufgedrückt. Dann passierte es wieder, diesmal aus Unachtsamkeit. Doch beim dritten Mal war es Absicht. Genauso beim vierten, fünften und sechsten Mal. Anschließend rasierte sie sich das andere Bein, wiederholte dort die Prozedur und beobachtete, wie sich die schmalen roten Rinnsale zu breiteren vereinigten. Eigentümliche Gebilde schlängelten sich dahin, den Flüssen auf einer Landkarte gleich – rote statt blaue Flüsse. In den Schnittwunden spürte sie ein Stechen, von der Seife. Doch der Schmerz tat – sonderbarerweise – gut. Victor allerdings würde so etwas niemals gutheißen, und er hätte natürlich recht. Wie gewöhnlich. In allem. Wenn sie ihn doch nur finden und es ihm sagen könnte. Vielleicht würde er sie wieder aufnehmen. Denk drüber nach, Donna, sagte sie zu sich selbst, während sie das Bad verließ und wieder in ihre blauen Shorts und das dazugehörige Oberteil schlüpfte. So schlimm, wie du’s immer hingestellt hast, war’s doch auch
wieder nicht. Sei aufrichtig gegen dich selbst. War’s wirklich so schlimm?
»Allmächtiger, was ist denn mit Ihren Beinen?«
Donnas Blick löste sich vom Gesicht der verblüfften Friseuse. Sie ließ ihre Augen an sich hinabgleiten. »Hab mich geschnitten, als ich sie rasierte.«
»Womit haben Sie sich denn rasiert, mit einer Axt?« fragte die Frau.
»Wann können Sie mich drannehmen?«
Die junge Frau mit den purpurfarbenen Strähnen im vorderen Teil ihres Haares blickte sich ratlos in dem Frisiersalon um, in dem es sehr geschäftig zuging. »Ich weiß nicht, Mrs. Cressy«, sagte sie. »Heute ist ja Silvester. Und da haben wir schon seit Wochen für praktisch jede Minute Voranmeldungen.«
»Bitte...«
»Also schön, kommen Sie in einer Stunde wieder. Will mal sehen, ob ich Sie irgendwie dazwischenschieben kann.« Sie sah Donna an. »Was genau möchten Sie denn gemacht haben?«
Donna betrachtete die Frau, in deren Salon sie im Jahr nach Sharons Geburt so häufig zu finden gewesen war. Die Friseuse trug ihr Haar ziemlich kurz. In der Form wirkte es geometrisch, und die Farben – eine rötliche Messingtönung mit breiten purpurnen Strähnen vorn. »Gefällt mir, so wie Sie’s haben«, sagte Donna.
Was sie hierhergeführt hatte, wußte sie nicht. Gewiß, ihr blieb eine Stunde Zeit, bevor sie wieder zu Lorraine, der Friseuse mußte. Aber das beantwortete noch lange nicht die Frage nach dem Warum. Seit dem Begräbnis war sie nicht mehr hier gewesen, und nie hatte sie das Gefühl gehabt, daß der Friedhof – oder Grabstein – sie ihrer Mutter irgendwie näherbingen könnte. Weshalb kam sie jetzt hierher?
Donna ging zwischen den Reihen der Gräber entlang, die mit frischen Blumen geschmückt waren – Bitte, keine künstlichen Blumen, stand auf dem Schild. Wie friedlich es hier war. Ein Scherz aus Kindertagen fiel ihr ein: Du, da gibt’s einen neuen Friedhof, und die Leute bringen sich um, bloß um dorthin zu kommen! Sie beschleunigte unwillkürlich ihre Schritte und fand dann die Reihe, die sie suchte, und den Grabstein.
SHARON EDMUNDS
1910 – 1963
geliebte Gattin von Alan
geliebte Mutter von Donna und Joan
»Eine sanfte Seele; ein gütiger Geist«
Lange Sekunden verharrte Donna vor dem Grabstein. Mit den Fingerkuppen zog sie ganz langsam die Furchen der gravierten Buchstaben nach, fast als lese sie die Worte in Blindenschrift. Und sie tat es mehrmals, ehe sie mit der ganzen Hand über die glatte Oberfläche strich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, dachte sie. Ich weiß nicht, wie ich zu dir sprechen soll. Dann ließ sie sich langsam zu Boden sinken, saß auf der Erde neben dem Grab ihrer Mutter und blickte mit gleichsam leeren
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