Sag Mami Good bye - Fielding, J: Sag Mami Good bye - Kiss Mommy Good Bye
zu leben.
Mel arbeitete noch spät, um sich den nächsten Tag frei nehmen zu können.
Als Donna die Stufen zu seiner Praxis hochstieg, fühlte sie, wie ihr Herz zu rasen begann; wie bei einem Teenager, dachte sie. Und sie begriff auch, wie groß die Möglichkeit – wenn nicht gar Wahrscheinlichkeit – war, daß er sie gar nicht mehr haben wollte. Allzuviel Zeit war verstrichen, allzuviel hatte sie ihm zugemutet.
Sie verhielt mitten auf der Treppe. Die Luft war ihr knapp geworden, sie atmete tief. Wenn er sie nun nicht mehr haben wollte, was dann? Weitere endlose Spaziergänge ins Irgendwo? Wieder irgend so ein Fremder, den sie auf einem Kinderspielplatz auflas? Wieder Blut im Waschbecken des Badezimmers? Nein, beschloß sie, während sie die Treppe weiter emporstieg. Sie hatte sich zur Genüge selbst gestraft. Keine Blasen mehr. Kein Blut mehr. Sie hatte bereits bezahlt.
»Komme gleich«, rief er aus seinem Zimmer, nachdem sie das Wartezimmer betreten hatte. Keine Sprechstundenhilfe mehr, niemand. »Muß nur noch was fürs Laboratorium fertig machen. Dauert nicht lange.«
Donna stand in der Mitte des Raums und wartete. Ich werde überleben, sagte sie zu sich selbst. Wenn du mich von dir fortschickst,
werde ich überleben, trotzdem. Und ich bin auch die einzige, die’s schaffen kann – für mich.
»Bitte um Entschuldigung. Wußte nicht, daß noch jemand angemeldet war...« Kaum, daß er sie erkannte, brach er ab. Und Donna sah, wie in seinen Augen Tränen aufstiegen, fühlte aufsteigende Tränen auch in ihren Augen.
Doch ihre Stimme klang sehr klar, und es war ganz und gar ihre eigene Stimme. »Bitte, laß mich alles sagen, das zu sagen ich hergekommen bin, bevor du irgend etwas sagst.« Er nickte wortlos. »Ich bin ein Dummkopf gewesen, oder wie immer du mich nennen möchtest. Die letzten neun Monate meines Lebens habe ich damit vergeudet, den verdammten Felsbrocken über den Gipfel hinwegrollen zu wollen, obwohl doch jeder weiß, daß das absolut unmöglich ist. Der rollt einfach zurück, über mich hinweg – und auch über jeden, der zufällig in meiner Nähe steht.« Er schwieg, weil er wußte, daß da noch mehr war, was sie sagen wollte.
»Ich habe heute einen ganz enormen Tag hinter mir«, fuhr sie fort. »Ich las irgendeinen Jüngling im Park auf und nahm ihn mit auf mein Motelzimmer. Dann amputierte ich mir beim Abrasieren der Beine diese sozusagen ums Haar. Auch hätte ich mir fast das Haar purpurn gefärbt.« Sie hielt für einen Augenblick inne. »Und ich ging meine Mutter besuchen, auf dem Friedhof.« Wieder schwieg sie für einen Moment. »Auf dem Weg hierher mußte ich ununterbrochen an das Buch denken. An das Buch von Albert Camus über Sisyphos. Und ich glaube, so wird’s wohl sein müssen. Nur auf diese Weise werde ich überleben können. Ich meine, was Victor getan hat, ich muß es als Tatsache hinnehmen. Muß mir richtig klarmachen, daß es praktisch keine Hoffnung gibt, meine Kinder jemals zurückzubekommen. Je mehr ich hoffe, desto mehr verzweifle ich. Und für Verzweiflung ist in mir einfach kein Platz mehr.«
Sie weinten nun beide. Weinten ohne Scheu, fast hemmungslos.
»Wie du mir gegenüber jetzt empfindest, weiß ich natürlich nicht. Ich weiß nur, daß ich dich liebe. Daß ich mich sehr danach sehne, mit dir zusammen zu sein. Deine Frau zu sein und Annies Mutter. Aber ich weiß auch, daß ich nicht zerbrechen werde, falls du mir sagst, es sei zu spät.« Sie lachte, unter Tränen. »Es würde mir ganz verteufelt zusetzen«, erklärte sie. »Aber zusammenbrechen – nein, zusammenbrechen würde ich nicht. Das verspreche ich dir.« Sie ließ eine Pause eintreten. »Das ist alles, was ich zu sagen habe. Nun bist du an der Reihe.«
Er lächelte traurig. Und bevor er sprach, verging eine geraume Zeit. »Purpurfarbenes Haar?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Heißt das, daß du mich liebst?«
»Das heißt, daß ich dich irrsinnig liebe.«
Im nächsten Bruchteil einer Sekunde gab es zwischen ihnen keine räumliche Entfernung mehr, und Worte – Worte waren ohnehin überflüssig.
20
Donna saß über einem gewaltigen Stapel von Quittungen und unbezahlten Rechnungen, die sie alphabetisch einzuordnen versuchte. Welche junge oder auch nicht so junge Dame hierfür als letzte verantwortlich gewesen war – kein Wunder, daß man sich an »Kelly Girl« gewendet hatte, um sie zu ersetzen.
Das Telefon schrillte. Nein, natürlich, hier schrillte es nicht. Es spielte irgendeine kaum
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