Sag mir, wo die Mädchen sind
ich gleich an der Tür die blutigen Schuhe aus und verpackte sie in dem mitgebrachten Asservatenbeutel. Ich übergoss mich mit einer halben Flasche Duschgel mit Verbena-Duft und wusch mir die Haare, doch den Blutgeruch wurde ich nicht los.
In den nächsten Tagen war ich hauptsächlich damit beschäftigt, die Fragen meiner Kollegen und der Medien zu beantworten. Der Mord an Noor schien angesichts der neuesten Bluttat in Vergessenheit zu geraten. In den Medien wurde Aziza wahlweise als kaltblütige Nachwuchsterroristin oder als Heldin dargestellt. Wahrscheinlich würde sie unter Aufsicht des Jugendamtes in Finnland bleiben dürfen.
Sie war auch zur Psychotherapie angemeldet worden, doch da es sich nicht um einen akuten Fall handelte, würde sie mindestens anderthalb Jahre auf den ersten Termin warten müssen.
«Im finnischen Gefängnis bin ich sicher. Issa kann nicht hinein, niemand kann hinein», erklärte sie im Lauf der Ermittlungen, an denen ich mich natürlich nicht beteiligen konnte, weil ich in die Ereignisse involviert gewesen war. Die Gerichtsverhandlungen würden sich vermutlich über Jahre hinziehen. Aziza wurde jedoch bis zur Verhandlung auf freien Fuß gesetzt. Vielleicht würde der Staatsanwalt zu der Einschätzung gelangen, dass sie Konttinen in Notwehr getötet hatte. Nur ich wusste, dass ihr einziger Beweggrund tiefe Angst gewesen war.
Von Angst schienen immer mehr Menschen geplagt zu sein, und jede neue Bluttat verstärkte das Unbehagen. Ich konzentrierte mich auf den Fall der jungen Frau, die versucht hatte, ihren Bruder zu töten. Wie ich vermutet hatte, stand hinter der Tat langjähriger Inzest: Der acht Jahre ältere Bruder hatte seine Schwester seit ihrem zehnten Lebensjahr missbraucht. Die Schwester bereute nach ihrer Tat nur, dass sie es nicht geschafft hatte, sie zu vollenden.
Heini Korhonens Trupp erreichte leider sein Ziel: Das ganze Frühjahr über lief die migrationsfeindliche Debatte auf Hochtouren. Nach ein paar Internet-Streifzügen, die mir Kopfschmerzen und Übelkeit bescherten, hielt ich mich von den digitalen Hasstiraden fern. Heini wurde entlassen, weil sie Lügen über die Besucherinnen des Mädchenclubs verbreitet und ihr Vertrauen missbraucht hatte. Sylvia Sandelin, die mich am Dienstag vor Ostern in Tapiola auf der Straße anhielt, wirkte alt und zerbrechlich.
«Ich habe mich immer für eine Menschenkennerin gehalten», sagte sie. «Das war dummer Stolz. Wenn ich nicht die Falsche eingestellt hätte, wäre Noor noch am Leben, und Samir Amir wäre es vielleicht erspart geblieben, mehr tot als lebendig in der Nervenklinik zu liegen. Und Ayan – wo ist das arme Kind? Mit der Gründung des Mädchenclubs wollte ich Gutes tun, und dabei habe ich so viel Hass und Trauer ausgelöst. Aber Ostern ist das Fest der Gnade, also versuche ich, mir selbst gegenüber Gnade walten zu lassen. Bis ich Tuomas verzeihen kann, wird allerdings noch einige Zeit vergehen. Hass zehrt einen auf. Er bekommt mir nicht. Frohe Ostern, Kommissarin. Komm einmal mit deiner Schwiegermutter zum Lunch. Es ist zwar erfrischend, sich mit jungen Frauen zu unterhalten, aber ab und zu sehne ich mich nach etwas erfahreneren Gesprächspartnerinnen.»
Vala rief mich am Gründonnerstag an. Er war immer noch im Krankenhaus, lag aber nicht mehr auf der Intensivstation.
«Ich wollte mich nur bedanken. Offenbar hatte ich ein riesiges Rad ab. Ich war fest davon überzeugt, dass Ulrikes Schmuck eine Geheimbotschaft enthielt, die dir verraten sollte, wo sich Issa Omar aufhält. Das war wohl ein Irrtum.»
«Allerdings. Es ist wirklich nur ein Schmuck.» Ich verschwieg Vala, dass ich ihm seine Geschichte beinahe abgekauft und den Schmuck vorsichtshalber im Gefrierschrank versteckt hatte. Am Tag nach der Schießerei hatte ich ihn beschämt herausgeholt.
«Ich habe allmählich überall Feinde gewittert, bei der Sicherheitspolizei wie unter meinen eigenen Leuten, und der Angriff auf die Schweden war sozusagen der letzte Tropfen. Aber ich hab einfach stur weitergemacht. Nach dem Motto, ein finnischer Mann bittet nicht um Hilfe, denn er glaubt, er kann es ganz allein mit zehn Talibankriegern und elf afghanischen Drogenbaronen aufnehmen. Wenn ich dem Scheißmotorradgangster allein entgegengetreten wäre, würde ich jetzt bei den himmlischen Luftstreitkräften mitfliegen. Gut, dass du dabei warst.»
«Lauri, ich bin wegen Aziza in die Wohnung gekommen, nicht wegen dir.»
«Das weiß ich, und ich werde dich auch nicht mehr
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