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Sag mir, wo die Mädchen sind

Sag mir, wo die Mädchen sind

Titel: Sag mir, wo die Mädchen sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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Bushaltestelle in der Nähe unseres Hauses stand eine vertraute Gestalt: Mein sparsamer Vater wollte nicht mit dem Taxi, sondern mit dem Bus nach Helsinki fahren. Er starrte in die Richtung, aus der der Bus kommen musste, und da ich mich aus der entgegengesetzten Richtung näherte, bemerkte er mich nicht. In seinem dunkelgrauen, knielangen Wintermantel und dem blauen, breitkrempigen Hut sah er merkwürdig zerbrechlich aus. Dabei war er immer unglaublich stark gewesen, nicht besonders groß, aber muskulös, und auf dem Hof meines Onkels Pena hatte er schwere Säcke und Holzstämme gestemmt, als wäre es nichts. Als kleines Mädchen hatte ich seine Kraft bewundert und so sein wollen wie er. Während meine Mutter stöhnte, wenn sie zwei Eimer Wasser von der Viehküche zum Kuhstall tragen musste, hatte ich mich gern damit abgeplackt, stolz darauf, es zu schaffen, obwohl ich ein Mädchen war. Jetzt dachte ich mit leiser Belustigung an mein damaliges Gehabe. Wie oft hatte ich mir beweisen müssen, dass ich dasselbe fertigbrachte wie ein Junge. Letzten Endes hatte mein verzweifelter Wunsch, mich zu behaupten, doch nur verraten, dass ich mein eigenes Geschlecht geringschätzte und mich von seinen Vertreterinnen abheben wollte.
    «Hallo.» Mein Vater fuhr zusammen, er hatte meine Schritte offenbar nicht gehört. «Wann kommt dein Bus?»
    «In einigen Minuten, hat Antti gesagt. Ich bin ein bisschen früher losgegangen, man weiß ja nie.»
    «Antti ist also zu Hause?»
    «Schon seit halb vier. Er backt irgendein Brot, das mit F anfängt.»
    «Focaccia. Mmmh.»
    «Wie war dein Arbeitstag? Kommt ihr voran?»
    «So allmählich.»
    «In den Nachrichten habe ich gehört, dass es einen Angriff auf deine Polizeischule in Afghanistan gegeben hat. Mindestens drei Schüler sind ums Leben gekommen. Hoffentlich keine von deinen Bekannten. Na also, da kommt der Bus.»
    Ich sah meinem Vater beim Einsteigen zu. Erst danach ließ ich den Druck auf mein Herz sinken. Am liebsten wäre ich das letzte Stück gerannt, um möglichst schnell an den Computer zu kommen. Wenn in der ersten Nachricht von drei Toten die Rede war, würde die endgültige Zahl wahrscheinlich höher liegen. Der Anschlag kam natürlich nicht überraschend, die Möglichkeit hatte von Anfang an in der Luft gelegen. Die Drogenbarone sahen es nicht gern, dass Kräfte entstanden, die ihre Machenschaften bedrohten. Manche von ihnen finanzierten die Taliban und Al-Quaida, und wenn man einen Verbrecher fasste, wuchsen zwei nach.
    Zu Hause duftete es nach Rosmarin und Knoblauch. Taneli half seinem Vater in der Küche und machte den Salat an, Iida ließ sich nicht blicken. Ich ging ins Schlafzimmer und schaltete den Computer ein, und während ich wartete, dass er zum Leben erwachte, holte ich meinen Schmuckkasten, in dem noch immer Ulrikes Halskette lag. Ich nahm sie heraus, überprüfte sorgfältig jedes Detail, suchte nach Säumen oder Brüchen, die verrieten, dass irgendetwas in dem Schmuck versteckt war. Doch ich fand nichts. Nach kurzem Überlegen nahm ich ein kleineres Schmuckkästchen, in dem früher Ohrringe gelegen hatten. Die Kette passte gerade hinein. Aus dem Bad holte ich Watte, mit der ich die Schachtel auslegte. Dann schloss ich sie, umwickelte sie mit Zeitungspapier, steckte sie in einen Plastikbeutel und legte das Ganze in eine Plastikdose, in der einmal Eiscreme gewesen war. Ich klebte ein Etikett darauf, auf das ich «Stachelschwämme» und ein Datum im September schrieb. In der Küche zeigte ich Antti die Packung.
    «Die tue ich in den Gefrierschrank. Frag nicht, warum.»
    «Warum?», fragte Antti prompt, aber ich war schon wieder auf dem Weg ins Schlafzimmer, wo der Computer inzwischen einsatzbereit war. Ich klickte mich auf die Webseiten der Fernsehanstalt Yle. «Bombenanschlag auf eine von Finnland geförderte Polizeischule in Afghanistan. Mindestens drei Tote.» Ein Bild zeigte das Gebäude, wie ich es kannte; der Jahreszeit nach war es kurz nach der Eröffnung gemacht worden. Der Bericht war kurz, und auch auf den Webseiten von NBC , BBC und New York Times fand ich nicht mehr Informationen. Ich schickte eine kurze E-Mail an Muna, Uzuri und Sayeeda, obwohl es natürlich möglich war, dass bei dem Angriff die Datenverbindungen der Schule zerstört worden waren. Gern hätte ich mehr getan, doch ich war Tausende Kilometer entfernt und völlig machtlos. Ich holte den Zehn-Afghan-Schein aus der Geldbörse, den ich seit meiner Rückkehr zur Erinnerung bei mir getragen

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