Sag mir, wo die Mädchen sind
Mord zumindest in Erwägung gezogen werden.
Die Aussage von Noors Mutter klang glaubhaft, doch ein gewiefter Strafverteidiger würde sie in der Luft zerreißen. Ihrem Bericht zufolge hatte Noor am Dienstagabend zum Mädchenclub gehen und Tuomas Soivio treffen wollen. Die Familie hatte versucht, sie daran zu hindern, denn Noors Aufmüpfigkeit ging zu weit – sie trug in der Schule kein Kopftuch mehr und war mit einem andersgläubigen Jungen befreundet. Beim Abendessen war dann Streit ausgebrochen, weil Großvater Reza dem Mädchen verboten hatte, die Wohnung zu verlassen.
«Noor keine Angst. Sie sagt, finnisches Gesetz auf ihrer Seite. Darf nicht verbieten und nicht schlagen. Tuomas weiß, und die Freundinnen im Club. Sie sagen es Polizei, wenn Noor nicht darf gehen.»
Sie war tatsächlich gegangen, doch sie hatte geweint, als sie die Wohnung verließ, denn die Männer hatten sie mit Worten beschimpft, die ihre Mutter nicht wiederholen wollte. Der eifersüchtige Rahim war Noor gefolgt und hatte ihr angeboten, sie mit dem von Omar Hassan geliehenen Wagen zum Mädchenclub zu bringen. Einzelheiten hatte Rahim nicht erzählt, doch im Wagen hatten die beiden sich gestritten, und schließlich hatte er Noor erdrosselt.
Als Frau Ezfahani an dieser Stelle angelangt war, hatte sie ihre Finnischkenntnisse plötzlich restlos verloren. Ich hatte sie in unser Ermittlungszimmer gebracht und ihr Tee angeboten, dann war ich in das Besprechungszimmer des Gewaltdezernats zurückgekehrt, wo weiterhin eine Pattsituation herrschte. Ich hatte Ruuskanen auf den Flur gebeten und ihm berichtet, was ich von Noors Mutter gehört hatte.
«Das kann der Durchbruch sein. Die Dolmetscherin wäre mir jetzt nützlich. Vielleicht würde es sich lohnen, Rahims Vernehmung zu unterbrechen und Gullala bei der Befragung von Frau Ezfahani einzusetzen», schlug ich vor.
«Wieso kommt die auf einmal zu dir und erzählt das alles?», wunderte sich Ruuskanen.
«Du hast vorhin doch selbst gesagt, dass manche muslimische Männer mit Frauen kein Wort sprechen. Das gilt umgekehrt genauso. Auch Gullala ist eine Frau. Vielleicht könnten wir zu zweit versuchen, von Frau Ezfahani eine beweiskräftige Aussage zu bekommen. Dann hätten wir gegen den Hauptverdächtigen und die anderen Männer der Familie etwas Konkretes in der Hand.»
Auch Ruuskanen sah ein, dass die Aufklärung des Falles wichtiger war als die Frage, wem man sie zu verdanken hatte. Er beendete Rahims Vernehmung vorläufig, ließ den jungen Mann in die Zelle zurückbringen und stattdessen die anderen Mitglieder der Familie Ezfahani erneut zur Vernehmung vorladen.
«Komm du mit mir, du wirst woanders gebraucht», sagte ich zu Gullala. Sie folgte mir, ohne zu fragen, weshalb die Vernehmung unterbrochen worden war, und ich zog es vor, sie nicht ins Bild zu setzen. Sie war die Dolmetscherin, keine Kollegin. Als wir den Ermittlungsraum betraten, grüßte sie die ältere Frau mit einem respektvollen Nicken und zog ihr Kopftuch zurecht.
«Ich nehme das Gespräch auf Band auf. Kann Frau Ezfahani bitte auf Persisch wiederholen, was sie mir gerade auf Finnisch gesagt hat?»
Gullalas Augen wurden immer größer, je weiter Noors Mutter mit ihrem Bericht kam. Frau Ezfahani sprach nun mit vollkommen ruhiger und gleichmäßiger Stimme; ich fragte mich, ob sie unter Schock stand. In der persischen Version war die Geschichte detaillierter. Rahim hatte Noor, die auf dem Vordersitz saß, mit ihrem Kopftuch erdrosselt, ihr Gesicht danach mit demselben Tuch verhüllt und den Wagen auf den Parkplatz bei den Schrebergärten in Puolarmetsä gelenkt. Dort hatte er die Leiche auf die Rückbank gelegt und mit einem Teppich zugedeckt, der im Kofferraum gelegen hatte. Dann war er nach Hause gefahren und hatte die Männer der Familie zusammengetrommelt.
«Moment mal», unterbrach ich. «Eine Nachbarin, die gesehen hat, wie Noor am Dienstagabend gegen sechs Uhr aus dem Haus ging, behauptet, dass sie kein Kopftuch trug.»
«Sie hatte das Tuch an, als sie ging, hat es aber im Treppenhaus sofort abgebunden. Das glaube ich jedenfalls. Rahim hat natürlich verlangt, dass sie es wieder anlegt. Es schickte sich nicht, dass sie unverhüllt neben ihm im Wagen saß. Das war wohl auch der Grund für den Streit. Noor wollte das Tuch nicht mehr, sie wollte den Islam nicht mehr. Hat man ihr das in dem Mädchenclub beigebracht?»
Es kam mir vor, als ob Gullala die Frage von Noors Mutter nicht nur dolmetschte, sondern auch selbst
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