Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
eine Zeit voll Grauen. Plündernd und brandschatzend zogen englische Truppen durch das Gebiet, dessen halbverhungerte Bewohner von Krankheiten heimgesucht wurden. In diesem Chaos forderte die Landbevölkerung Befreiung von Steuern und Abgaben, damit sie zum Schutz ihrer Häuser und Familien Mauern um ihre Dörfer errichten konnte. Diese Steuerbefreiung wurde neunzehn Ortschaften gewährt, unter ihnen Clermont, Montferrant, Issoire, Riom, Billom, Aurillac, Salers, Auzon, Aigueperse, Mauriac … und Saint-Flour.
Von seinem Basaltplateau herab beherrscht Saint-Flour das Tal des Flüsschens Ander. Der Name des Ortes geht auf den heiligen Florus zurück, der im 4. Jahrhundert in der Auvergne das Christentum verbreitete und dessen Grab sich dort befindet. Nachdem Papst Johannes XX. den Ort 1327 zum Bischofssitz erhoben hatte, hielt dort eine gewisser Wohlstand Einzug, doch als der Hundertjährige Krieg den Handel zum Erliegen brachte, mussten die Menschen ihren Lebensunterhalt mühsam mit der Herstellung von Textilien und Töpferwaren verdienen. Durch seine strategisch günstige Grenzlage an einer Straße, die ins Languedoc führte, wurde Saint-Flour für die Guyenne der »Schlüssel zu Frankreich«. Dieses Gebiet, das zusammen mit der Gascogne zu den dreiunddreißig Militärbezirken der französischen Monarchie gehört hatte, wurde unter Eduard III., Herzog von Cornwall und Fürst von Wales, der unter dem Namen »der Schwarze Prinz« Berühmtheit erlangt hat, zu einer Art Vizekönigtum. Doch von all dem wollten die Bewohner der Stadt Saint-Flour nichts wissen und führten einen Kleinkrieg gegen den Eindringling.
Von geschickten Steinmetzen jenes Landstrichs, die mit dem dort reichlich vorkommenden Basalt umzugehen verstanden, errichtete Wallfahrtskapellen zeugten vom unerschütterlichen Glauben der Bewohner des Tales. Bernard Gaudí schlug, im Kreise seiner Zunftgenossen im frischen Gras sitzend, mit Klöpfel und Meißel einen als Schlussstein für einen Rundbogen vorgesehenen Basaltblock zurecht. Schon sein Großvater und sein inzwischen zweiundachtzigjähriger Vater Pierre hatten sich ihren Lebensunterhalt als Steinmetze verdient. Keilsteine, Gesimse, Kragsteine und Kapitelle waren unter ihren geschickten Händen entstanden, und für so manche Kirche und Kapelle wie auch für Klöster in der ganzen Auvergne hatten sie Basaltblöcke für Deckengewölbe, Pfeiler und Säulen behauen. Er selbst war in den Jahren vor dem Krieg an ferne Orte gereist, um im Dienst von Grafen, Herzögen und anderen hohen Herren am Bau ihrer Paläste mitzuwirken. Inzwischen aber fesselten ihn der Krieg gegen England, der bereits ins sechzehnte Jahr ging, der alte Vater wie auch die Notwendigkeit, sich um seine noch junge Schwester Agnès zu kümmern, an die nähere Umgebung, und so beschränkte er sein Tätigkeitsgebiet auf Saint-Flour, wo er am Bau der Stiftskirche, von Wohnhäusern für Händler und der Errichtung der Verteidigungsmauern rund um die Stadt mitwirkte.
Der metallische Klang der Werkzeuge hallte in der Stille der Bergwelt weit über das Tal der Ander. Die Sonne strahlte vom Himmel, und von den Bergen um die bewaldete Granitlandschaft der Margeride wehte ein kühles Lüftchen herüber. Bernard Gaudí erhob sich, um etwas Wasser aus einem Fässchen zu trinken, das im Schatten eines Daches stand. Gerade als er einen Schöpflöffel voll zum Munde führen wollte, begann sein Pferd, das er an einen Baum gebunden hatte, zu schnauben und unruhig zu tänzeln. Während er ihm beruhigend den Hals tätschelte, sah er einen Jungen herbeieilen, der heftig gestikulierend die Arme schwenkte. Er erkannte den Sohn des Schmieds. Er schien etwas zu rufen, doch konnte man es wegen der Entfernung nicht hören.
Als der Junge näher gekommen war, verstand man schließlich, was er rief: »Die Engländer! Sie stecken die Häuser an …«
Bernard Gaudí ließ den Schöpflöffel fallen und lief dem Jungen entgegen. Sein Pferd bäumte sich wiehernd auf. Auch die anderen Steinmetze ließen ihr Werkzeug sinken und bildeten einen Kreis um den Jungen.
»Was gibt es, Crésus?«, fragte Bernard Gaudí besorgt.
»Engländer sind gekommen und haben die Häuser in Brand gesetzt«, stieß der Junge schwer atmend hervor. »Es war für sie ganz einfach, weil fast alle Männer auf dem Feld sind… Sie haben die Läden geplündert und Frauen und Kinder umgebracht …«
Das Entsetzen ließ das Blut der Steinmetze erstarren. Sogleich dachte Bernard Gaudí voll
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