Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
der verlassenen Zwillingsbrüder Romulus und Remus angenommen und sie genährt haben soll, sei ein Symbol für die animalischen oder tellurischen Kräfte – also wieder eines, das die Beziehung zum umbilicus telluris herstellte. Zum Schluss wies er ihn auf eine geheimnisvolle Figur hin: zwei nahezu symmetrisch dargestellte Knaben oder Männer, die einander umarmten.
»Diesen Stein habe ich mir als krönenden Abschluss aufgehoben«, sagte er. »Dabei handelt es sich um die Zwillinge, das dritte Tierkreiszeichen. Es zeigt die Dioskuren Kastor und Polydeukes, ursprünglich aus dem Orient stammende griechische Gottheiten, die für die Ewigkeit des Kosmos stehen. Sie galten als Söhne des Zeus, weil ihre Mutter Leda sie als Zwillinge zur Welt brachte. In Wahrheit aber war Kastor als Sohn von Ledas Gatten Tindareos ein Sterblicher, Polydeukes hingegen als Sohn des Zeus ein Halbgott. Bei uns tauchen sie üblicherweise in der lateinischen Namensform Castor und Pollux auf. Können Sie mir folgen?«
»Ich bemühe mich«, sagte Munárriz, sich am Kopf kratzend.
»Erinnern Sie sich noch an das, was ich über Maria als Symbol des Grals gesagt habe und daran, dass man sie als vas electum bezeichnet hat, weil Gottes Sohn durch sie Fleisch und damit sterblich geworden ist?«
»Ja.«
»Sie haben mich vor einer Weile nach den Abkömmlingen Jesu gefragt, nach dem Symbol des sangreal , oder ›sang real‹, also des königlichen Blutes. Hier haben wir einen Beleg für die Überzeugung der Templer, dass eine solche Nachkommenschaft existierte.« Er machte eine kurze Pause, als müsste er nach den passenden Worten suchen, dann fuhr er fort: »Im Neuen Testament ist die Rede von den Brüdern Jesu. Darüber haben wir schon gesprochen. Doch es gibt noch weitere schriftliche Belege wie zum Beispiel das Protoevangelium des Jakobus , das Evangelium des Pseudo-Thomas oder auch die koptische Fassung der Geschichte Josephs des Zimmermanns , die alle offen von den Brüdern Jesu sprechen.«
»Natürlich hat die Kirche das nie gelten lassen …«
»Das wäre gleichbedeutend mit dem Zusammenbruch der Dogmenlehre. Schließlich würde eine Nachkommenschaft Jesu die Jungfräulichkeit Marias und damit das göttliche Wesen Christi in Frage stellen. Immerhin hat Papst Pius IX. erklärt«, hob er hervor, »Marias Jungfräulichkeit sei keine Hypothese, sondern gehe auf göttliche Offenbarung zurück.«
Er schwieg eine Weile und folgte Munárriz’ Blick. »Offen gesagt bin ich überzeugt, dass Jesus einen Zwillingsbruder namens Thomas hatte, und Gott möge mir verzeihen, falls ich mich irre«, fuhr er dann fort, »dieser Thomas war einer der zwölf Jünger und ist auch unter dem Namen Didymos bekannt. Das ist die griechische Form des aramäischen tomá , was so viel wie ›Zwilling‹ bedeutet.«
»Ich verstehe«, nickte Munárriz. »Das Christentum hat den Mythos von Castor und Pollux als hermetischen Schlüssel zur Element-Umwandlung übernommen – der Sterbliche und der Unsterbliche. Letzterer steht für die Quintessenz, das Große Werk, den Stein der Weisen, Ersterer hingegen für die Abstammungslinie, die das Initiationsgeheimnis schützt, die Genealogie Jesus.«
»Auf philosophischer Ebene«, setzte der Priester hinzu, »verweisen die Zwillinge, von denen der eine sterblich und der andere göttlicher Natur ist, auf die bedeutende Lehre des Hermes Trismegistos, die man als Grundlage alchemistischen Denkens ansehen kann: ›Was sich oben befindet, ist genauso wie das, was sich unten befindet …‹«
Munárriz nickte verblüfft.
»Auch das hebräische Wort Thomas bedeutet ›Zwilling‹. Die beiden Brüder Jesu, also Jakobus und Thomas, begründeten die Abstammungslinie Christi, und zugleich präsentierten die anderen Jünger den Heiden die Geschichte von Thomas, um zu erreichen, dass diese glaubten, Jesus sei vom Tode auferstanden, was sie wiederum von dessen göttlicher Macht überzeugen sollte. Es gibt zwar zu denken, dass ausgerechnet Thomas im Johannes-Evangelium als der Ungläubige hingestellt wird. Doch gerade dadurch ließ sich die von den Jüngern inszenierte Fälschung am besten vertuschen. Geht Ihnen jetzt die Bedeutung dieser Wallfahrtskapelle auf? Verstehen Sie, warum sie Begoña so sehr gefesselt hat?«
»Unbedingt«, bestätigte Munárriz und fasste den Gedankengang zusammen: »Die Kirche hat die wahre Botschaft der heiligen Schriften verdunkelt, weil darin gar nicht die Rede von einem göttlichen Erlöser der Menschheit ist,
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