Saigon - Berlin Thriller
klären.
»Ist Jupp schon vom Dienst zurück?«
Olga stand in ihrem Bratwursttempel. Es waren die üblichen Saufkumpane anwesend, die sich an Wodka, dem Gasbrenner und ihren heißen Sprüchen wärmten.
Olga schüttelte den Kopf. »Bei denen geht momentan alles drunter und drüber. Mehr drunter. Aber du hast doch einen großen Wagen mit einem großen Kofferraum. Ich könnte deine Hilfe brauchen. Helft mir mal, Jungs.«
Ohne meine Zustimmung abzuwarten, wuchteten die angetrunkenen Stammgäste einen Stehtisch heran, bei dem die Tischplatte aus der Verankerung gerissen war.
»Wenn du mir den eben zwei Straßen weiter fahren würdest. Da kann ihn jemand reparieren. Einer der Typen zeigt dir, wo das ist. Kriegst auch ein extra knuspriges Hähnchen mit Pommes.«
»Das darf doch alles nicht wahr sein.« Jupp kratzte sich am Kopf. Fummelte nervös an seinem Koppel. Was war passiert?
Ich hatte den Schlüsselbund von Paule. Was ich damit anfangen sollte und wollte, war mir noch nicht klar. Also war es kein Aufschub, den zerbrochenen Stehtisch mal eben ein paar Straßen weiter zu fahren.
Der Kofferraumdeckel öffnete sich. Die Beleuchtung war schwach. Aber hell genug, um den Inhalt halbwegs orten zu können.
Und der bestand aus einem großen Plastiksack, der sich bewegte. Ein Mensch, der am Leben zu bleiben versuchte.
Zwei Schritte und ich hatte ein Messer vom Grill in der Hand. Schlitzte den Sack auf. Die Gestalt war weiblich und mit Klebebändern stillgestellt. Hände, Füße, Mund. Alles war verklebt.
Jupps Trabbi knatterte herbei. Er half mir, den Körper aus dem Kofferraum zu bergen. Er fragte nicht viel. Er tat es einfach.
Die Frau im Kofferraum war jung, schwarzhaarig und völlig erschöpft. Ich erkannte sie sofort, obwohl ich sie nur ein einziges Mal in meinem Leben gesehen hatte, als sie noch ein winziges Bündel war.
Es war meine Tochter.
The-Marias Tränenstrom war nicht zu stoppen. Sie stand unter Schock, fror erbärmlich in meinen Armen und schrie die ganze Nachbarschaft zusammen. Ich war wie gelähmt, wusste nicht, wie ich sie beruhigen konnte.
Die angetrunkenen Gäste wurden schlagartig nüchtern, als sie uns sahen, und ... schwiegen. Olgas Hähnchen rochen wie süßes, verbranntes Menschenfleisch.
Olga stürzte aus dem Wohnwagen. »Komm Mädchen. Hier biste in Sicherheit. Ik mach dir 'n heißet Bad und viel Kamillentee. Lass die Männer ma machen.« Sie fiel vor lauter Aufregung in ihren Dialekt zurück. Die Männer zuckten hilflos mit den Schultern. Jupp hatte die Hände in den Hosentaschen versenkt und knurrte etwas, was sich wie »Das bezahlt er mir teuer« anhörte.
Olga war mit The-Maria in der Wohnung verschwunden. Einer der Stammgäste hatte ihren Platz eingenommen und sich erst einmal einen ordentlichen Wodka eingeschenkt.
Wie lange hatte The-Maria im Kofferraum gelegen? Das Kind musste paralysiert sein. Und ich hatte sie im Kofferraum spazieren gefahren. Sie hätte erstickt sein können, wenn sie sich nicht so diszipliniert benommen hätte. Wenig bewegen. Wie eine Vietcong. Keine Luft verbrauchen. Abwarten und flach atmen. Jede Bewegung, sich bemerkbar zu machen, konnte das eigene Leben kosten. Sie konnte nicht wissen, wer den Wagen fuhr. Dieses Mal hätte diese Strategie gründlich danebengehen können. Jetzt brauchte ich auch einen Wodka.
»Was meinst du mit ... das bezahlt er mir teuer?«.
Jupp zog nur kurz die Augenbrauen hoch. »Nicht hier«, murmelte er. »Können wir eben den Tisch zur Reparatur fahren? Sonst ist Olga sauer.«
Wohl war mir nicht dabei. Lieber wäre ich bei meiner Tochter geblieben. Sie war in einem jämmerlichen körperlichen und seelischen Zustand. Am liebsten hätte ich sie ins Auto gepackt und wäre mit ihr gen Westen gefahren. Aber ich hatte zu viel getrunken. Und außerdem war ich mir nun nicht mehr sicher, ob die verstellte Stimme nicht doch Kleiner Drache statt The-Maria als Faustpfand in der Hand hatte.
Ich hatte den Fehler begangen, meine Familie in Vietnam nur als Jugendsünde abzutun. Nun holte mich meine Vergangenheit mit Rauschgift und Toten ein. Langsam ging mir nicht nur die moralische, sondern auch die journalistische Puste aus. Das Leben schien nichts zu vergessen. Und mein Konto davon war offensichtlich überzogen. Die Lebensbank forderte eine sofortige Rückzahlung.
Wir hievten den Stehtisch in den Kofferraum. Der Deckel ging nicht mehr zu. Lieferten das Teil in einer Art Baracke ab. Auf dem Hof stapelten sich alte Autos. Reifen.
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