Salamitaktik
Licht auf ihn.«
»Dann wird es Sie bestimmt beruhigen, wenn ich Ihnen sage, dass der Mario nicht weggelaufen ist. Er hat seinen GroÃvater zur Singstunde gebracht. Am Sonntag ist doch das Jahreskonzert.«
Irfans Stirn kräuselte sich. »Was für ein Jahreskonzert?«
»Na, das vom Gesangsverein!«, sagte sie, als habe er eine denkbar dumme Frage gestellt. Und Irfan kam sich im Moment tatsächlich ziemlich dumm vor. Wahrscheinlich hatte er es einfach schon zu lange mit wirklichen Verbrechern zu tun.
»In ungefähr zweieinhalb Stunden sind die beiden zurück«, ergänzte Helene Birktaler.
Auch wenn Irfan nur ungern anzweifeln wollte, was die alte Dame da erzählte, sagte ihm sein professioneller Instinkt, dass es besser wäre, Mario im Fall, dass sie log, keinen allzu groÃen Vorsprung zu lassen. Zweieinhalb Stunden konnten ein gewaltiger Vorsprung sein. Und auch wenn der Junge nur seinen GroÃvater weggebracht hatte: Einfach so zu verschwinden, konnte und durfte er ihm nicht durchgehen lassen. Es gab also keine Alternative.
»Und wo probt dieser Gesangsverein?«, fragte er.
*Â *Â *
Schlaicher war einige Zeit im Büro geblieben, um sich die Ãberwachungsmonitore anzuschauen und auch seine eigenen Kameras zu überprüfen, die eine gute Rundumsicht boten. Lutz hatte gute Arbeit geleistet. Die Dinger funktionierten. Aber er selbst funktionierte nicht richtig, denn immer wieder schweiften seine Gedanken zurück zu dem Gespräch, das er mit Weng geführt hatte. »Sie haben ihr wehgetan.« Ja, das wusste er auch. Nach der Trennung hatte er einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, dass es nicht der Kuss mit einer anderen Frau allein gewesen war, der Martinas Reaktion endgültig gemacht hatte. Es war seine Sprunghaftigkeit gewesen, sein Versuch, mit einer Lüge die Verfehlung zu verbergen. Einer Lüge, die selbst im Erfolgsfall einen Keil zwischen sie getrieben hätte. Er hatte sich seither oft selbst gehasst für sein Verhalten. Und für seine Angst, sich Martina zu stellen, sie mit seiner Erkenntnis zu konfrontieren und um Verzeihung zu bitten. Unterdessen war mehr und mehr Zeit vergangen, und die Möglichkeit, noch etwas zu sagen oder zu tun, was ihre Meinung ändern könnte, schien irgendwann nicht mehr vorhanden zu sein. Dabei hatte er, das war ihm durch diesen einen Satz von Weng klar geworden, immer noch selbstsüchtig gehandelt. Es war ihm auch noch einige Monate nach der Trennung nur um sich selbst gegangen, um sein schlechtes Gefühl, seine Schuld, seine Angst. Nie hatte er gedacht, dass er sich Martina um ihretwillen stellen musste. Sie war ihm immer so stark vorgekommen, dass er gar nicht auf die Idee gekommen war, sie könnte vielleicht ein ehrliches Wort von ihm brauchen. Ein Gespräch, das einmal nicht wie zum Ende ihrer Beziehung einfach nur ein Versuch war, sich aus einer verfahrenen Situation herauszureden.
Schlaicher entdeckte sie schlieÃlich auf einem der Monitore. Sie stand in der Nähe der Auslagen im Erdgeschoss und lächelte eine Frau an, die auf die Lefèvre-Produkte zeigte. Obwohl das Bild nur schwarz-weià war, bildete Schlaichers Hirn Martina in Farbe ab. Er beschloss, zu ihr zu gehen.
»So, meine Liebe, Sie können aufstehen und werden aussehen wie eine DreiÃigjährige«, sagte Emanuelle Lefèvre, die offenbar nach ihrem Telefonat die Sprecherinnenrolle bei der Show übernommen hatte. Schlaicher war auf seinem Weg zu Martina durch die Menge der Frauen jäh gebremst worden und arbeitete sich langsam weiter vor.
Emanuelle Lefèvre zog die Samtdecke mit einem Schwung weg. Gleichzeitig entfernte sie das Handtuch vom Gesicht der Frau. Das Raunen, das durch das Publikum ging, schwoll zu einem Tosen an und erstarb wieder. Alle reckten die Köpfe, um einen Blick auf die Glückliche zu erhaschen, die für die Behandlung auserwählt worden war. Schlaicher konnte sie nicht sehen.
Ãber die Anlage war ein lautes, hektisches Einatmen von Emanuelle Lefèvres zu hören, und ein spitzer Schrei von einem der J-Mädchen durchdrang den Moment der gespannten Ruhe. Schlaicher sah Ekel und Ãberraschung in ihrem Gesicht. Die Lefèvre stellte sich blitzschnell um, sodass das Publikum vor der Bühne nicht auf die Liege schauen konnte, doch es war zu spät. Vorne im Publikum ertönten ebenfalls entsetzte Rufe, dann war es auf einmal so laut wie in der
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