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Salamitaktik

Salamitaktik

Titel: Salamitaktik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf H. Dorweiler
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»Ich hätte gerne einen schwarzen Tee«, sagte er, und Mario ging kopfschüttelnd nach unten, um zu schauen, ob noch welcher da war. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Opa Georg und Onkel Michael schauten sich eine deutsche Komödie an und reagierten kaum, als er Hallo sagte und, den Tee in der einen und eine Colaflasche in der anderen Hand, wieder nach oben ging.
    Irfan hatte ein Prachtstück von einem Joint gedreht, der auf dem kleinen Tisch vor Marios Fernseher lag. Er hatte sich die Schuhe und das Jackett ausgezogen und lümmelte in dem abgewetzten braunen Sessel. Mario musste zugeben, dass der so durchgesessen war, dass er eine andere Haltung auch kaum noch zuließ.
    Â»Das ist also dein Ernst?«, fragte er sicherheitshalber noch einmal. Er hatte kurzzeitig den Gedanken gehabt, Irfan wolle ihn vielleicht testen, nachdem er ihm das Kiffen doch verboten hatte. Dass er jetzt bestätigend nickte, beruhigte ihn doch ungemein.
    Â»Vielen Dank für den Tee. Du willst keinen?«
    Â»Cola«, sagte Mario.
    Irfan trank einen Schluck von seinem Tee und griff nach dem Joint, den er mit einem der herumliegenden Feuerzeuge anzündete. Er inhalierte tief, behielt den Rauch lange drin und atmete dann mit einem wohligen Stöhnen aus. Nach dem zweiten Zug reichte er die Tüte an Mario weiter, der es Irfan nachtat. Der ausgeatmete Dunst legte eine Glocke über die Alltagswelt. Mario konnte nicht sagen, ob Irfan besonders großzügig dosiert hatte oder ob die heftige Wirkung daran lag, dass er in letzter Zeit deutlich weniger als sonst geraucht hatte. Wahrscheinlich lag es ein bisschen an beidem. Auf jeden Fall fand er es auf einmal richtig lustig, mit Irfan in seinem Zimmer zu hocken. Der Typ war witzig. Das sagte er ihm auch.
    Â»Nein, du bist witzig«, antwortete Irfan. Zum ersten Mal, seit das Schicksal sie zusammengebracht hatte, lachten beide.
    Im Hinterkopf war Mario dennoch bewusst, dass dieses Lachen nicht aus Freundschaft entstanden, sondern der Wirkung des Joints zuzuschreiben war, der bei jeder Übergabe an den anderen ein Stückchen kürzer wurde.
    Â»Ich mag deine Familie«, sagte Irfan grinsend.
    Â»Ich auch«, antwortete Mario. »Zumindest den Rest, den ich noch habe.«
    Â»Was ist mit deinen Eltern passiert?«
    Mario nahm den letzten tiefen Zug, bei dem er die Hitze nicht mehr nur in Mund und Lunge spürte, sondern auch in den Fingerspitzen, die die Zigarette kaum noch halten konnten. Er drückte den Rest im Aschenbecher aus und schaute durch sein Zimmer. Im dichten Rauch konnte er das Foto, das auf seinem alten Schreibtisch stand, kaum erkennen. Aber er kannte das Bild auswendig, hatte sich früher immer wieder jede Kontur der Gesichter seiner Eltern eingeprägt, weil er Angst gehabt hatte, sie sonst zu vergessen. Seine Mutter war eine wunderschöne Frau gewesen, mit wachen braunen Augen, die ihn immer liebevoll und gütig angeblickt hatten, vollen Lippen, die sie nur geschminkt hatte, wenn sie am Samstagabend mit seinem Vater zum Tanzen ging. Lange dunkelbraune Haare, die schwer über ihre Schultern fielen und von ihr oft hochgesteckt wurden. Mario hatte als kleines Kind so gerne in diese Haare gegriffen.
    Â»Ich war sechs, als es passiert ist. Ich weiß noch genau, wie ein Polizeiwagen auf den Hof gefahren ist. Zwei Polizisten sind rausgekommen. Sie haben mich ganz mitleidig angeschaut. Einer ist rein zur Oma, der andere ist mit mir draußen geblieben, und ich durfte mich in den Polizeiwagen setzen. Aber ich habe schon irgendwie gemerkt, dass etwas nicht stimmt.«
    Das Gras ließ Mario ganz tief in Erinnerungen eintauchen, die er sonst zu verdrängen suchte. Aber ein Blick auf Irfan, der ihm gebannt zuhörte, ließ in weitererzählen.
    Â»Nach einiger Zeit kam der andere Polizist mit Oma raus. Ich hatte sie vorher nie so gesehen. Sie war total gebrochen und konnte kaum gehen. Sie hat geweint, und ich musste deswegen auch heulen.« Mario spürte, dass auch jetzt Tränen in seine Augen stiegen. »Sie hat mich so fest in den Arm genommen, dass es mir wehgetan hat.«
    Mario setzte einen Moment aus, weil er die Umarmung beinahe spüren konnte. Er griff nach der Colaflasche und nahm einen großen Schluck.
    Â»Sie hatten einen Unfall. Nur zwei Kilometer von hier entfernt. Anscheinend war Papa zu schnell unterwegs gewesen und ist in einer Kurve von der Straße abgekommen. Das Auto soll sich mehrfach

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