Sally
Ferne. Zu dem Punkt, ab dem alles schiefgegangen war. Ich erinnerte mich an meine Tagträume beim stundenlangen Nähen in meinem kleinen Atelier mit dem großen Schrank, dem Spiegel, der Nähmaschine auf dem Arbeitstisch und der Bügelstation. Ich erinnerte mich an die Luftschlösser, die ich damals gebaut hatte und bei denen Geld nie eine Rolle gespielt hatte, und daran, wie mich Mario kurz nach dem Schwarzen Montag mit einem Schlag in die triste Realität geholt hatte. Der Schwarze Montag, dem jetzt womöglich noch schwärzere folgen würden.
Seit einigen Wochen beobachtete ich die Konjunkturentwicklung, weil ich meine Vorstellung einer besseren Zukunft auf irgendetwas gründen musste. Ich klammerte mich an diese Hoffnung. Nachdem mein Leben gemeinsam mit der Wirtschaft abgestürzt war, dachte ich, dass es vielleicht auch gemeinsam mit ihr wieder anspringen könnte. Aber die Experten gaben keine eindeutigen Auskünfte und widersprachen einander weiterhin. Einige Prognosen besagten, dass dies alles erst der Anfang der Katastrophe gewesen sein könnte. Dass nach dem Absturzeine kurze Erholung kommen und erst dann alles richtig den Bach runtergehen würde.
Ich bat die junge Verkäuferin, das Mieder möglichst eng zu schnüren.
»Viel fester«, sagte ich. »Ziehen Sie es richtig zu.«
»Enger geht es nicht.«
»Doch, es geht. Ich schreie schon, wenn es weh tut.«
Mit einem Ruck zurrte sie das Mieder unter meinen Rippen zu. Das Plastik schnitt mir in die Haut. Unwillkürlich kniff ich die Lider zusammen. Nach Halt suchend tastete ich nach der Garderobenstange.
Mit großen runden Augen sah mich die Studentin an.
»Danke, es geht schon.«
Ich konnte mich weder bewegen noch einatmen.
Mario hatte nach unserem Eklat seine Drohungen teilweise wahr gemacht. Er hatte meiner Mutter einen kleinen Auszug aus meinen E-Mail-Korrespondenzen gezeigt. Und zwar gerade nur so viel, dass sie ahnen musste, was Sache war, während er sich die giftigsten Pfeile im Köcher behalten hatte. Er hatte damit bewiesen, dass er nicht davor zurückschrecken würde, mich an den Pranger zu stellen. Auf dem Spielplatz hatte mich meine Mutter darauf angesprochen.
»Wie war das mit dem Bikinifoto, das du fremden Männern geschickt hast?«
»Ach das«, sagte ich mit einer wegwischenden Handbewegung. Ich wusste genau, dass meine Mutter nicht einmal richtig verstand, was eine E-Mail war. »Es war nur ein Mann. Er ist ein guter Freund, zwischen uns ist nichts, und ich hatte mir gerade einen neuen Bikini gekauft. Du weißt ja, wie Mario ist. Wenn ich ihm so etwas zeige, reagiert er gar nicht.«
Sie ließ sich bereitwillig beruhigen. Mütter wollen es manchmal nicht so genau wissen. Meine jedenfalls nicht.
Langsam bekam ich wieder Luft in meinem neuen Mieder. Die alte Atemtechnik beherrschte ich also noch. Nicht in den Bauch atmen. In wenigen Minuten würde ich aufstehen und nach Hause fahren können. Das Mieder behielt ich gleich an. Ich zog den Rock hoch und knöpfte die Bluse bis oben hin zu. Aufrecht und gerade stand ich vor dem Spiegel. Das Mieder war für niemanden sichtbar, aber ich spürte wieder den gewohnten Halt. Und den Schmerz. So kann ich funktionieren, dachte ich. Ich muss nur ein wenig Geduld haben.
7
OKTOBER 2009. Seine Stimme war mir sofort bekannt vorgekommen. Am Telefon hatte er etwas von einer geplanten »kleinen speziellen Weihnachtsfeier im intimen Rahmen« gefaselt und von einem Geschäftsfreund, dem er »zeigen wollte, wo Gott wohnt«. Treffpunkt war ein Swingerclub namens Hollywood.
Ich war normalerweise nicht gut im Wiedererkennen von Stimmen, aber diese eine hatte ich nicht vergessen. Sie gehörte Peter, dem Typen aus dem Stundenhotel, der sich vor meinen Augen eine Spritze in den Schwanz gerammt hatte.
Es schneite, als ich zu dem Club fuhr. Mit meinen Moonboots stapfte ich durch den Matsch und betrat das Etablissement pünktlich zum verabredeten Termin. In der Garderobe schälte ich mich aus mehreren Schichten von Jacken, Pullis und T-Shirts. Die Wollstrumpfhosen tauschte ich gegen halterlose Strümpfe und die Stiefel gegen fünfzehn Zentimeter hohe schwarze High Heels. Mein Handy surrte.
»Ich schaffe es nicht rechtzeitig.« Peter war vor lauter Hektik etwas heiser. Die Hintergrundgeräusche waren so laut, dass ich ihn kaum verstand. Es klang nach Baustelle. »Geh du schon mal vor, ich komme gleich. Die Leute im Club wissen Bescheid und Gerhard ist auch schon da.«
Vor dem Spiegel der Spindtür strich ich den
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