Salomes siebter Schleier (German Edition)
machte … Sie fing an, ihre Augen zusammenzukneifen und das Bild verschwimmen zu lassen, hörte jedoch schnell wieder auf. Wenn sie sich auf das Werk einlassen wollte, dann zu dessen Bedingungen. Und soweit sie sah, waren diese Bedingungen sozial, intellektuell und politisch, nicht ästhetisch. Diese Kunst existierte wegen eines konzeptuellen Arguments, weniger wegen ihres Einflusses auf die Wahrnehmung. Ellen Cherry war umgeben von ideologischen Aussagen, in denen die Ideologie eine statische Vision war. Mit anderen Worten, die Ideen steckten in den Kunstwerken fest. Mangels Expression konnten sie sich nicht daraus befreien, um den Gleisen der Retina in die unergründlichen Tunnel der Psyche zu folgen.
Diese Bilder sind Grabsteine
, dachte sie.
Vielleicht entdecken sie auf ihre zynische Art einen Wert in Resignation, Leere und Sinnlosigkeit; vielleicht erweisen sie uns einen Dienst, indem sie zeigen, wie vergeblich der Versuch ist, mit den Massenmedien in Konkurrenz zu treten, aber hoppla, in Wirklichkeit sind sie nichts anderes als Todesanzeigen, sie erklären die Magie in der Kunst für tot. Und das könnte verfrüht sein.
Je länger Ellen Cherry darüber nachdachte, desto überzeugter war sie davon, dass die Aufgabe des Künstlers in einer übertechnisierten, übermaskulinisierten Gesellschaft darin bestand, die alte Magie zu neuem Leben zu erwecken.
Ob das möglich war? Na sicher, ihr pessimistischen Schlappschwänze, warum nicht? Ob es
ihr
möglich war? Schon fraglicher, aber sie konnte es wenigstens versuchen.
Sie schoss nach draußen. Es hatte noch nicht angefangen zu regnen, aber der Himmel kochte wie ein Topf voller
film-noir-
Kartoffeln. Zum Himmel aufzusehen war, als blickte man in einem Hipster-Waschsalon durch das Bullauge einer Waschmaschine. Mindestens drei schwarze Rollkragenpullover kreisten zwischen Ellen Cherry und der Sonne.
Es war kaum drei Uhr, aber in SoHo brannte bereits Licht. Der Tag war so dunkel geschminkt wie Jezabels Augenlider, die Luft frisch und elektrostatisch aufgeladen. Die Leute rannten wie furchtsame Tiere. Viele trugen Turbane, manche waren in Bettlaken gehüllt. Ellen Cherry hatte den Eindruck, dass allmählich die ganze Stadt aussah wie die Bar im Isaac & Ishmael’s. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie in den Straßen von New York das letzte Mal Englisch gehört hatte. Aus den Radios, an denen sie vorbeikam – jedes einzelne in einem Akt rechtmäßiger Aggression voll aufgedreht –, rollten die spanischen Sänger im von dem Gewitter verursachten statischen Rauschen minutenlang ihre R.
Sie hätte geradewegs nach Hause gehen, ihre Geräte aus dem Stecker ziehen, die Fenster schließen und ihre neuen Schuhe in einen trockenen Schrank eindocken sollen, aber sie konnte nicht. Sie hatte sich entschieden, wieder zu malen; sie wusste nicht, was, sie war sich nicht sicher, wann, doch inspiriert vom Pessimismus ihrer Künstlerkollegen, geleitet von der außergewöhnlichen Erfahrung mit dem Löffel und um ihre Verbitterung wegen Boomer zu überwinden, würde sie malen – das stand fest. Und um ihre Entscheidung zu feiern und zu bekräftigen, schuldete sie sich, Gewitter hin, Gewitter her, einen längst überfälligen Besuch bei Turn Around Norman.
Norman, Norman. Menschliche Pfeffermühle, die mit so atemberaubender Langsamkeit die alten Gewürze mahlte, die einst der faden Brühe des Überlebens eine Prise echter Ekstase hinzugefügt hatten. Selbst wenn man von seiner eigentlichen Performance unberührt blieb, bildeten die Konzentration und Integrität, die Norman ausstrahlte, ein Vorbild nicht nur für Künstler, sondern für … Eine blauäugige Sekunde mal eben! Wo steckte denn der Typ?
Sie hatte sich ein Taxi gesucht, um dem Regen zu entwischen, und Erfolg gehabt. Der Wind war aufgefrischt, der Donner grollte wie ein Wal mit einem Bauch voller Jonasse, aber noch war kein Tropfen gefallen, und die Fifth Avenue wirkte relativ belebt. Nur war das nicht Turn Around Norman da auf den Stufen der Kathedrale. Das war nicht er, der sich da um sich selbst drehte, genau an der Stelle, wo er sich jahrelang tagein, tagaus (außer mittwochs nachmittags) und bei jedem Wetter, am Heiligabend ebenso wie am Super-Bowl-Sonntag gedreht hatte. Das da drüben war nicht Norman, sondern jemand anderes.
Ihre Enttäuschung verwandelte sich in Abscheu. Und dann in Angst. Denn Reverend Buddy Winkler erkannte sie im gleichen Moment wie sie ihn und brach seine Predigt
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