Salomes siebter Schleier (German Edition)
Kunst mehr gegeben. Jeder Künstler hat nur das Werk seiner Vorgänger überarbeitet. Meine Künstler sind einzigartig, weil sie sich zu dieser Praxis bekennen. Sie sind sogar einen Schritt weiter gegangen, indem sie sich weigern, den Schwindel mitzumachen. Wenn sie sich das Werk der Künstler, die sie bewundern, einfach aneignen, wenn sie es kopieren und als ihr eigenes ausstellen, sind sie auf mutige Weise ehrlich – und auf tragische Weise traurig. Dass sie ihre Niederlage eingestehen, bildet einen wesentlichen Bestandteil der allgegenwärtigen Melancholie, die unsere Zeit durchdringt.»
«Polyvalent, wie?»
«Sie verachten meine Künstler, weil Sie sie für passiv und unbedeutend halten, aber Sie haben sich nicht die Mühe gemacht zu fragen, warum sie sich für diesen Standpunkt entschieden haben. Denn immerhin ist es ein bewusster Standpunkt. Diese Künstler haben beschlossen, das dekadente Bildermachen der Bourgeoisie abzulehnen. Sie verspotten die Aura, die hohe Kunst umgibt, eine Aura von Kostbarkeit und Seltenheit, die in Wirklichkeit mehr mit Kunst als Handelsware denn mit Kunst als einem Vehikel für soziale Verbesserungen zu tun hat.»
«Die Art Kunst, die Sie in der Uptown-Galerie zeigen.»
«Ja, meine Hündchen und ich müssen schließlich von irgendwas leben. In Uptown ist die Kunst nur Aura, und Sammler bezahlen teuer dafür, diese Aura in ihr Heim oder Büro transferieren zu können. Hier in SoHo ist die Kunst schlicht
Objekt
. Sie verachtet die gesamte regressive Vorstellung von der Verherrlichung der Kultur. Warum auch nicht? Was gibt es an unserer Kultur schon zu verherrlichen? Aids? Armut? Gewalt? Korruption? Habgier? Die Atombombe? Jeden Tag kommen neue Meldungen aus dem Nahen Osten, die unseren Untergang ankündigen. Es ist schon schlimm genug, dass sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, aber es könnte jeden Augenblick eskalieren und auch den Rest der Menschheit mit hineinziehen. Meiner Ansicht nach wäre es ein Beweis für die soziale Verantwortungslosigkeit eines Künstlers, wenn er im Schatten von Jerusalem nur hübsche, elitäre Handelsware produzierte.»
Ultima zündete eine pinkfarbene Zigarette an und stieß durch ihr zartes Näschen parfümierte Rauchwolken aus. Sie schien darauf zu warten, dass ihre kleine Lektion Wirkung zeigte. Vielleicht glaubte sie, dass es seine Zeit dauern würde, bis die Information durch das viele Haar gedrungen war. Schließlich sagte sie: «Bitte nehmen Sie meine Kommentare nicht persönlich, meine Liebe. Es wird immer eine Nische für Landschaftsmaler geben. Aber bevor Sie gehen, sehen Sie sich die Künstler, die Sie eben so geringschätzig über einen Kamm geschoren haben, noch einmal genauer an. Wenn sie überhaupt eine gemeinsame Botschaft haben, so lautet sie: ‹Wir räumen unsere Niederlage ein. Wir haben keine Chance gegen die Meisterwerke der Vergangenheit, gegen den Markt der Gegenwart, gegen die Vernichtung der Zukunft – aber wir sind trotzdem da!› Da ist etwas so Treffendes, Tapferes und Ironisches dran, dass ich manchmal heulen könnte.»
«Ja», sagte Ellen Cherry. «Ich muss wirklich gehen. Da draußen braut sich was zusammen.»
Doch als sie die schmiedeeiserne Wendeltreppe hinabgestiegen war, trödelte sie noch eine volle Viertelstunde herum und tanzte im Ausstellungsraum Walzer mit den Geistern, die Ultima in ihrem Elfenbeinturm losgelassen hatte. War sie, Ellen Cherry, nicht ebenfalls der Kunst zum Opfer gefallen? Aber wem hatte sie sich anvertraut? Niemandem. Sie hatte sich still zurückgezogen. Sozusagen mit eingezogenem Schwanz verdrückt. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, aus ihrer Niederlage ein künstlerisches Statement zu machen. Deshalb hatte Ultima vielleicht recht: Diese Künstler waren ehrlicher, mutiger als sie. Man brauchte Mumm, um die Pleite seiner Phantasie einzugestehen. Und überhaupt, wo stand denn eigentlich geschrieben, dass man als Künstler unbedingt etwas Neues schaffen musste? Wahrscheinlich hatte sie Innovation immer schon als Vorbedingung für ein bedeutendes Werk angesehen, als eine Art Gesetz, aber natürlich gab es in der Kunst keine Gesetze. Genau das war ja das Verlockende daran. In ihren Augen war die Kunst damit viel besser dran als das Leben. Oder wenn nicht besser dran, so doch zumindest interessanter.
Andererseits, was war interessant an der detailgetreuen Abbildung eines U-Bahn-Plans in Öl? Wie trostlos und langweilig, wie gewöhnlich und blöd. Aber wenn man ein paar Faxen
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