Salomes siebter Schleier (German Edition)
Begründung, sie sei verdächtig. «Jetzt wird gegen mich ermittelt, und zum ersten Mal in meinem Leben muss ich mich möglicherweise so weit erniedrigen, einen Anwalt zu nehmen. Das ist das Ende von allem Guten und Reinen. Wird ein Kerl wie ich erst mal weich und heuert einen Anwalt an, ist seine Passage zum Hades so gut wie gebucht.»
Die Epistel schloss mit einer offenkundig lasziven Bemerkung. Boomers Handschrift wurde im Verlauf des Briefes immer unleserlicher, und sie konnte den Schluss nicht ganz entziffern, hätte aber ihren letzten Cent darauf verwettet, dass er etwas Anzügliches enthielt. Seine Unterschrift ähnelte dem Schnurrbart eines lateinamerikanischen Tanzlehrers. Am Ende der Seite jedoch entdeckte sie ein Postskriptum von beinahe akademischer Leserlichkeit. Zweifellos hatte er es morgens nach dem Ausschlafen hinzugesetzt. Es lautete:
«Wenn ich’s mir recht überlege – vergiss den Tom Clancy.»
Der November spielte seine Karten aus: zwei schwarze Asse, zwei zitternde schwarze Siebenen und den Pik-Buben. Salome tanzte, Ellen Cherry managte, und dann kamen die Maurer und schickten beide nach Hause. Am Mittwoch vor Thanksgiving wachte Salome auf, um (wahrscheinlich) Chemie zu büffeln, Verbände zu wechseln und Irren und Junkies den Schaum vom Mund zu wischen. Ellen Cherry wachte auf, um (sicher) im Bett zu bleiben und zu grübeln. Doch nach einer Weile hatte sie ihre Verzweiflung satt, stand auf, machte Toilette und wärmte sich zum Frühstück einen Rest
shawarma
aus dem I & I auf.
Die Aussicht auf ein Frühstück aus
shawarma
-Resten war eines der Dinge, die sie deprimierten. Dann stellte sich heraus, dass es gar nicht übel war. Wie man es auch drehte und wendete, es schlug
baba ghanoug
um Längen. Einmal hatte sie sich
baba ghanoug
zum Frühstück gemacht und sogar ein paar Bissen davon runtergewürgt, bevor ihre Geschmacksknospen protestierten, das widerspreche der Genfer Konvention.
Außerdem schwelgte sie in Selbstmitleid, weil sie an einem so bedeutenden Feiertag mutterseelenallein sein würde. Patsy war übers lange Wochenende nach Florida geflogen, würde aber Weihnachten nach New York kommen und sogar eine Weile zu ihr ziehen, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hatte, ein Unterfangen, das so lange dauern konnte wie die Entwicklung eines Mittels gegen die gewöhnliche Erkältung. Ellen Cherry war klar, dass sie diesen letzten Monat des Alleinseins nutzen sollte. Im Übrigen hatte sie eine Einladung zum Thanksgiving-Dinner bei Abu, Nabila und Familie. Also konnte sie ihr Selbstmitleid begraben – trotz Gatten-, Liebhaber- und Vaterlosigkeit.
Da sie wieder einmal mit der Miete im Rückstand war, grübelte sie auch über ihre Finanzen nach. Aber halt, sie hatte nicht nur bezahlten Urlaub, Spike hatte ihr obendrein auch noch eine Urlaubszulage in Höhe von zwölfhundert Dollar zugesteckt. Das würde die Lage für eine Weile entspannen. Und auf lange Sicht würde sie schon irgendeine Möglichkeit zum Überleben finden. So war es immer gewesen. Eins stand jedenfalls fest: Sie würde keine Bilder für Ultima Sommervells Galerie malen, nur um schnell an Geld zu kommen. Wie sie mehr als einmal mit Blick auf die Staffelei gesagt hatte: «Es für Geld zu tun ist was ganz anderes, als es zu tun, weil man muss.»
Was uns auf den vierten im Bunde ihrer Bluesbläser bringt: die Künstlerdaseinstrübsal. Jeder Zweite auf der Straße war der gescheiterte Konsorte dieser oder jener Muse. Man traf sie überall. Der Sonntagsgitarrist, der einfach keine Zeit zum Üben hatte, der Dichterling, der eine Allergie gegen die Einsamkeit entwickelt hatte, die Möchtegernschauspielerin, die zu schwach war, um ihren häuslichen und mütterlichen Pflichten zu widerstehen, der Farbkleckser, der es leichter fand, sich am Alkohol zu berauschen als an Farben, der Möchtegernfilmemacher, der aus mangelndem Selbstbewusstsein in der Werbung endete; die Sänger, Töpfer, Tänzer, denen der Extrafunke an Leidenschaft, das Extraenzym an Hingabe, die Extrapferdestärke an Courage fehlte, waren dazu verdammt, die Wände ihres Lebens mit zerstörten Träumen und heimlichen Frustrationen zu tapezieren. Ellen Cherry hatte sich geschworen, lieber lebende Kakerlaken zum Frühstück zu verspeisen, als sich ihnen anzuschließen.
Plötzlich stand sie auf und drehte eins der Bilder um, die an der Wand lehnten. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, den Kimono gegen ein altes T-Shirt einzutauschen, griff sie nach
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