Salomes siebter Schleier (German Edition)
Tamburin.
Und begann zu tanzen.
Das ist der Raum mit der Wolfsmuttertapete. Der Raum, wo im Bewässerungsgraben am Fuß des Bettes dein ältester lebender Vorfahre, die monarchistische Amöbe, Hof hält.
Yeeh yeeh yeeh yeeh yeeh
Yeeh yeeh yeeh yeeh yeeh yeeh yeeh
Zinga doppa dop lop zinga
Eh, eh-eh, eh eh zeee
Während ihre bloßen Füße im Takt zu Polyrhythmen, die älter waren als das antike Petra, auf den Boden stampften, wirbelte Salome, bückte sich, wirbelte wieder, stampfte auf und wirbelte zugleich, stieß das Becken vor und zurück, als versuchte sie ein Kind herauszupressen. Ihre Augen waren groß und heiß, purpurrote Tücher umflatterten sie. So tanzte sie fast zwanzig Minuten, bevor der erste Schleier fiel.
Aus irgendeinem Grund hatten Ellen Cherry, Spike, Abu und praktisch alle anderen im Raum angenommen, dass der erste Schleier von oben fallen würde, dass es zum Beispiel der sein würde, der Nase und Mund verhüllte. Doch irrten sie. Als der Schleier schließlich zu Boden schwebte wie die Haut einer Mondschlange, entblößte er nicht ihr Gesicht, sondern ihre Lenden. Das Publikum saß da wie versteinert. Spike und Abu gerieten aus Sorge um ihre Kabarettlizenz in Panik. Shaftoes geschundene Stirn runzelte sich besorgt: Immerhin war er ein Hüter des Gesetzes. Ellen Cherry lief rot an. Sie hatte mit Freundinnen in Seattle nackt in der Sonne gelegen, aber noch nie bewusst das Geschlecht einer anderen Frau betrachtet, war noch nie buchstäblich gezwungen gewesen, es zu betrachten. Es war faszinierend und verwirrend zugleich. Sie war froh, dass Patsy draußen im Hof war.
Alle waren schockiert, selbst die Unerschrockensten. Doch keiner unternahm etwas, um die Vorstellung zu unterbrechen. Keiner. Und Salome wand sich und bückte sich und schlängelte sich und bog sich, und jedes Mal, wenn sie sich bog, schauten sie in die hübscheste und rosigste kleine Spalte, die sie sich vorstellen konnten, mit Furchen, zart und geheimnisvoll, mit einem winzigen Stachel, der auf sie gerichtet war wie der Gewehrlauf einer räuberischen Orchidee, und einem lockigen Fellchen, so glänzend und feucht wie die Fußmatte im Bermudadreieck-Hilton.
Der Schleier lag noch nicht lange am Boden, als Ellen Cherry anfing … nun ja, Signale aufzufangen. Spontan, ohne Vorwarnung, kamen ihr Dinge in den Kopf, Gedanken traten in ihr Bewusstsein, ja, so könnte man es ausdrücken, nur waren diese Gedanken lebendiger und ausgeformter als alles, was sie je gewusst hatte, und zugleich durchdrungen von Informationen, die ihr bis dahin völlig unbekannt gewesen waren. Es war, als seien die Gedanken eines anderen in ihr Gehirn übertragen worden, wo sie sich sofort breitmachten und zu den ihren wurden.
Die Welt, so wurde ihr mit einem Mal klar, drehte sich um Sexualität. Einzigartig in einem Sonnensystem von totem Gestein, Schneebällen und Gaszellen, bildete die Erde ein Theater, eine rotierende Bühne, wo sich in einer dünnen grünen Schicht organischen Lebens unzählige endlose Szenen abspielten, bei denen es explizit oder zwischen den Zeilen fast ausschließlich um Sexualität ging. In diesem biosphärischen Epos waren die Figuren entweder Samentütchen oder Eierkartons (ein paar flexiblere Darsteller, die Amöben etwa, konnten in beide Rollen schlüpfen, aber das war eine aussterbende Kunst), und Szenerie, Kulissen und Kostüme waren nur dazu bestimmt, das Verschmelzen von Heldensamen und Heldinnenei zu fördern oder zu erleichtern. Farben, Gerüche und Geräusche von organischen Dingen hatten sich zu sexuellen Reizstoffen entwickelt und dienten dazu, Milliarden von romantischen Plots Milliarden von mehr oder weniger glücklichen Enden zuzuführen. Neueste Beobachtungen der Verhaltensmuster von Verbindungen eingehenden Molekülen hatten gezeigt, dass sich selbst auf molekularer Ebene ständig komplizierte und gefährliche Liebschaften abspielten: Da gab es beispielsweise die Abstoßung von Molekülen und sicherlich auch molekularen Liebeskummer. Es gab in allen Altersstufen und in allen Bereichen – ob pflanzlich, tierisch, molekular oder menschlich – sexuell inaktive Organismen, Abweichler, Freaks, pathologische Außenseiter, die sich der Harmonie des Lebens entzogen.
Trotz eines oftmals betont männlichen Erscheinungsbildes, das etwas anderes anzudeuten schien, wurde das sexuelle Drama (oder das Melodram oder die Farce) historisch gesehen größtenteils von Frauen inszeniert, insbesondere bei der Menschheit, einer
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